Die Anamnese spielt für Ärzt*innen und Medizinstudierende eine essenzielle Rolle bei der Diagnosefindung. Ein systematisch geführtes Anamnesegespräch gibt Patient*innen die Möglichkeit, ausführlich über ihre Beschwerden zu berichten. Gleichzeitig ist es Aufgabe der Ärzt*innen durch die Kombination offener und geschlossener Fragen ein umfassendes Bild von den Patient*innen zu erhalten und so erste Rückschlüsse auf mögliche Erkrankungen schließen zu können. Die Anamnese setzt sich aus verschiedenen Aspekten zusammen: aktuelle Symptomatik, Leitsymptom, vegetative Anamnese, Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme, Genussmittelanamnese, Berufsanamnese, Familienanamnese Familienanamnese Vorsorgeuntersuchungen und Prävention im Erwachsenenalter und psychosoziale Anamnese. Eine Sonderstellung besitzt die erlebte Anamnese. Hier werden Vorkenntnisse über Patient*innen mit einbezogen und setzen ein längeres Kennen zwischen Ärzt*innen und Patient*innen (z. B. hausärztliche Versorgung) voraus.
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Lernleitfaden
Medizin ➜
Achtung: Sollte der Eindruck entstehen, dass Patient*innen mit der Form von offenen Fragen nicht zurechtkommen oder die Antworten nicht zielführend sind, ist ein Wechsel zu geschlossenen Fragen sinnvoll. Bei Kindern, dementen oder vigilanzgeminderten Patient*innen können enge Bezugspersonen, z. B. Familie, Partner*innen, Pfleger*innen, befragt werden (Fremdanamnese).
Im Rahmen ihrer Beschwerdeschilderung äußern manche Patient*innen eine Vielzahl von aktuellen Symptomen und Beschwerden aus der Vergangenheit, die sie im Kontext ihres Krankheitskonzeptes zueinander in Beziehung bringen, ohne dass für Ärzt*innen ein konkreter Zusammenhang besteht.
Auf der Basis der erfragten Leitsymptome sollten geschlossene Fragen verwendet werden, die es ermöglichen, ein exaktes Bild der vorliegenden Erkrankung zu gewinnen. Hierzu sollten infrage kommende Erkrankungsbilder jedoch vorab bekannt sein. Fragen, die gestellt werden sollten, sind u. a.:
Nachdem das Leitsymptom genauer charakterisiert wurde, sollten im Anschluss auch Begleitsymptome – in offener („Haben Sie noch weitere Symptome?“), als auch in geschlossener Form erfragt werden, hierzu zählt auch die vollständige vegetative Anamnese:
Achtung: Die Symptome müssen nicht immer alle zusammenpassen und auf ein einziges Krankheitsbild hindeuten. Patient*innen können sowohl „Läuse als auch Flöhe“ haben. Insbesondere ältere Patient*innen haben zum Teil eine Vielzahl von Erkrankungen. Deshalb ist es auch wichtig, nach Vorerkrankungen zu fragen (Schritt 4).
Häufig kann ein aktuelles Problem auf einer Exazerbation oder einer Folgekomplikation einer bereits bestehenden Erkrankung beruhen, z. B.:
Beim Erfragen der Vorgeschichte sind folgende Bereiche wichtig:
Angaben über regelmäßig eingenommene Medikamente können weitere Aufklärung über Symptome geben:
Die Genussmittelanamnese hilft dabei, mögliche Gründe für Symptome/Erkrankungen zu ermitteln und u. U. Suchterkrankungen zu erkennen:
Fragen zur Berufstätigkeit, familiären Vorerkrankungen und zur psychosozialen Situation werden zu Unrecht häufig stiefmütterlich behandelt und finden sich meist erst zu Ende der in Krankenhäusern verwendeten Anamnesebögen. Dabei können viele Erkrankungen erst aus dem beruflichen, familiären oder psychosozialen Kontext heraus verstanden werden.
Ein großer Teil unseres Lebens entfällt auf unsere Arbeit (Berufstätigkeit). Dabei sind wir vielen unterschiedlichen und z. T. schädigenden Einflüssen exponiert. Neben Schadstoffen (z. B. Asbest, Feinstaub), Lärm und Zwangshaltungen (z. B. Fliesenleger) am Arbeitsplatz spielt auch die Arbeitsorganisation und dadurch bedingter Stress sowie die steigende Zahl prekärer Beschäftigungsverhältnisse eine immer größer werdende Rolle. Es lohnt sich nach folgenden Aspekten zu fragen:
Die Familien- und Sozialanamnese beinhaltet sowohl die aktuelle familiäre und häusliche Situation als auch die Frage einer innerfamiliären Häufung verschiedener Erkrankungen (z. B. Tumorerkrankungen). Sie gibt Auskunft über die Versorgungssituation von Patient*innen, soziale Kontakte und familiär bestimmte Vulnerabilität für bestimmte Erkrankungen. Folgende Aspekte sollten erfragt werden:
Das konkrete Ansprechen psychosozialer Belastungen fällt Studierenden und Ärzt*innen häufig schwer. Schließlich dringt man mit derartigen Fragen in das Innerste eines Menschen ein, das man selbst so gut es geht, unter Verschluss hält. Hinzu kommt, dass noch immer eine Tendenz zur Tabuisierung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen innerhalb unserer Gesellschaft besteht.
Gerade im Hinblick auf die steigende Zahl psychisch bedingter Erkrankungen (z. B. Burn-out-Syndrom) scheint es aber geradezu geboten, auch die psychosoziale Situation von Patient*innen genauer zu beleuchten. Gezieltes Fragen nach:
Ein behutsames Vorgehen ist wichtig. Diese Formulierungen können dabei helfen:
Achtung: Viele Patient*innen sehen nicht den Zusammenhang zwischen einem belastenden Lebensereignis – sei es auch nur der Stress am Arbeitsplatz – und ihren körperlichen Symptomen. Das Aufzeigen von Symptomen kann zur Dankbarkeit führen oder auch eine Ablehnung gegenüber den Ärzt*innen bewirken.
Die erlebte Anamnese wird auch als spezielle Anamnese bezeichnet. Sie bezieht das Vorwissen über Patient*innen mit ein.
Nur Ärzt*innen, die ihren Patient*innen aktiv zuhören, erfahren die Dinge, die sie wissen müssen. Ziel ist kein Verhör, sondern ein Gespräch.
Achtung: Das Interesse muss ehrlich sein, andernfalls lassen sich die anderen drei Punkte nicht umsetzen. Dazu gehört, dass die Gesprächspartner*innen realisieren, dass sie die vollkommene Aufmerksamkeit haben. Patient*innen sollten möglichst nicht unterbrochen werden. Das ist auch deshalb wichtig, weil die Schilderung der Symptome sehr subjektiv ist und die Patient*innen jene Aspekte benennen, die für sie besonders belastend sind.
Empathie ist das einfühlende Verstehen. Das hat nichts mit Sympathie und auch nichts mit Mitgefühl zu tun. Es ist auch nicht das Ziel, dass sich Ärzt*innen mit Patient*innen identifizieren.
Die erlebte Anamnese erweitert die diagnostischen Möglichkeiten. Vor allem bei unklaren Symptomen ist das hilfreich. Dazu gehören Schlafstörungen, Kopfschmerzen, ständig wiederkehrenden Erkältungen oder unklare Bauchschmerzen. Dank erlebter Anamnese können Hausärzt*innen viele Faktoren ausschließen und Fragen präziser stellen. Beispiele hierfür sind:
Natürlich besitzt die erlebte Anamnese auch Risiken und Grenzen: