Gesundheit und Krankheit sind zwei zentrale Begriffe der medizinischen Psychologie und Soziologie, deren Definitionen, Rahmenbedingungen und Wechselwirkungen durch verschiedene Bezugssysteme erklärt und untersucht werden können. Gesundheit bedeutet nicht nur körperliches Wohlbefinden, auch das seelische und soziale Wohlergehen gehören zur Definition von Gesundheit. Für die Erfassung von Krankheit spielen Klassifikationssysteme wie die International Classification of Diseases (ICD) und auch Handlungssysteme wie die Befunderhebung und Diagnostik eine wichtige Rolle. Ebenso nehmen rechtliche Grundlage und soziale Normen Einfluss auf das Verständnis für Gesundheit und Krankheit in einer Gesellschaft.
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Lernleitfaden
Medizin ➜
Zwischen den beiden Polen Gesundheit und Krankheit gibt es zahlreiche Abstufungen und Varianten. In der Medizin wird sich v. a. an der Definition von Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation WHO orientiert:
Gesundheit ist der Zustand des vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheiten oder Gebrechen.
Nicht jede Abweichung von der Norm oder vom Optimum kann jedoch als krank/pathologisch gewertet werden. Die behandelnden Ärzt*innen wissen um die vielen Abstufungen und Nuancen des Befindens eines Menschen und müssen aufgrund äußerer Strukturen (Krankenkassen, Arbeitgeber*innen, etc.) häufig doch Patient*innen einer der beiden Kategorien Gesundheit oder Krankheiten zuordnen.
Eine selbstverständliche Voraussetzung sollte das empathische Empfinden der Ärzt*innrn sein, was die Mitteilung der Befunde und Diagnosen an die betroffenen Patient*innen betrifft. Im medizinischen Alltag ist ein leider limitierender Faktor oft die Zeit. Trotzdem sollte immer das subjektive Befinden der Patient*innen eingeschätzt werden und wichtige Ärzt*innen-Patient*innen-Mitteilungen individuell angepasst werden.
Neben bekannten Begriffen wie Wohlbefinden, Beschwerden und Symptomen sind ebenso solche Begriffe wichtig, die mit dem subjektiven Erleben von Krankheit und Gesundheit assoziiert sind.
Symptomaufmerksamkeit:
Jedes Individuum nimmt Symptome unterschiedlich stark wahr.
Cave: Ärzt*innen können nicht selbstverständlich von Selbstreflexion ausgehen!
Interozeption/Exterozeption:
Um Beschwerden wahrnehmen zu können, bedarf es der körperlichen Wahrnehmung. Zur Interozeption, der Innenwahrnehmung gehören Propriozeption Propriozeption Neurologische Untersuchung, Viszerozeption und Nozizeption Nozizeption Physiologie des Schmerzes.
Zwei Beispiele von abweichendem Erleben sind die Hypochondrie und die Somatisierungsstörung Somatisierungsstörung Somatische Belastungsstörung / Somatisierungsstörung.
Bei der Hypochondrie kommt es durch exzessive Selbstwahrnehmung zu einer Überbewertung der kleinsten Symptome oder Nicht-Symptome. Patient*innen befinden sich in einem ständigen Zustand der Besorgtheit und Ängstlichkeit und befürchten krank zu sein oder krank zu werden.
Bei einer Somatisierungsstörung Somatisierungsstörung Somatische Belastungsstörung / Somatisierungsstörung kann psychisches und seelisches Leid nicht geäußert werden, weder vor sich selbst noch vor anderen. Dieser Drucksituation entkommt der Körper durch körperliche Symptome, er „spricht durch die Organe“.
Das subjektive Empfinden setzt sich also zusammen aus Interozeption, Exterozeption und der Handlungsfähigkeit.
Die Lebensqualität, bezogen auf die Gesundheit, ist nie von einem singulären Faktor abhängig. WHO: Physisches, psychisches und soziales Wohlbefinden machen zusammen mit dem Handlungsvermögen der Patient*innen die individuelle Lebensqualität aus.
Die impliziten Krankheitstheorien sind maßgeblich am Heilprozess beteiligt: Sehen Patient*innen eine Erkrankung z. B. als „gerechte Strafe“ an, verläuft ein Genesungsprozess deutlich anders, als wenn die Krankheit als „temporäres Hindernis“ empfunden wird, das überwunden werden muss. Wenn Ärzt*innen diese höchst subjektiven Krankheitstheorien in Erfahrung bringen können, erleichtert dieser „Schlüssel“ ihnen das Verständnis für die Krankheitswahrnehmung ihrer Patient*innen.
Krankheit kann im psychodynamischen Modell als Folge eines Konflikts interpretiert werden: Sie leistet einen Beitrag zur Konfliktlösung und Patient*innen schöpfen aus der Krankheit einen versteckten innerpsychischen Gewinn. Leichter nachzuvollziehen ist der sekundäre Krankheitsgewinn, der mit objektiven Entlastungen und Gratifikationen einhergeht.
Klinik-Ausflug: Oft „genießen“ ältere, alleinstehende Patient*innen es manchmal endlich einmal umfassend betreut zu werden und im Mittelpunkt zu stehen.
Bevor bildgebende Verfahren entwickelt wurden, waren Ärzt*innen rein vom äußeren Visus abhängig, um sich von Patient*innen „ein Bild zu machen“. Heute erleichtern Röntgen Röntgen Röntgen, Sonografie, CT und MRT MRT Magnetresonanztomographie (MRT) die diagnostische Arbeit maßgeblich. Sie sind jedoch nur ein Teil der Methoden, die Ärzt*innen zur Befunderhebung nutzen sollten. Zu einer vollständigen medizinischen Befunderhebung und Diagnose gehören:
Hinweis: Das Befinden beschreibt eine subjektive Erlebnisgröße, der Befund objektive Daten.
Instrumente der kategorialen Diagnostik sind die Klassifikationssysteme für psychische und somatische Krankheiten.
Seit dem 19. Jahrhundert wurde versucht, eine Art Katalog aufzubauen, um ärztlich-diagnostische Erfahrungen in einer Klassifikation zu ordnen. Die anfänglich internationale Nomenklatur der Todesursachen von 1893 hat sich bis heute weiterentwickelt zur International Classification of Diseases (ICD): Über 2500 Krankheiten aus dem somatischen und psychischen Bereich werden in 21 Kategorien klassifiziert. Seit 1958 ist die WHO für die Arbeit am ICD-10-Katalog zuständig. Im Januar 2022 wurde die ICD-11 als Nachfolger eingeführt.
Ursprünglich in den USA im 19. Jahrhundert als erste Klassifikation für Schwachsinn/Wahnsinn eingeführt, bearbeitet und aktualisiert seit 1952 die American Psychiatric Association das DSM. Die aktuellste Fassung lautet DSM-V-TR und umfasst ein Diagnosesystem mit fünf Achsen. Das DSM hat eine größere Bedeutung in der psychologischen Forschung als der ICD-Katalog.
5 Achsen des DSM
Unser Verhalten wird an verschiedenen Normen und Rollen bemessen. Die Rollendifferenzierung ergibt sich durch die Aufgabenspezialisierung in unserer Gesellschaft. Wenn Personen neu in eine Gruppe kommen, entwickelt sich eine Rollenschöpfung: Rollen werden neu verteilt und/oder übernommen. An eine Rolle sind bestimmte Erwartungen geknüpft: Ärzt*innen erfüllen eine genau festgelegte formelle Rolle, an Student*innen sind die Erwartungen in der informelle Rolle eher variabel.
Durch Abitur, Staatsexamen oder Ähnlichem oder auch als Sportler*in oder Chorsprecher*in erhalten Personen erworbene Rollen. Zugeschriebene Rollen wie das Geschlecht sind weniger beeinflussbar. Sich von einer zugeschriebenen Rolle lossagen zu wollen oder verändern zu wollen, benötigt es Rollendistanz (z. B. Emanzipation der Frau*). Das Gegenteil von Rollendistanz ist die Rollenidentifikation: Die Person akzeptiert und bejaht ihre Rolle.
Schon im Studium können Interrollenkonflikte entstehen: Die Erwartungen der verschiedenen Rollen, die auszufüllen sind, divergieren und führen zu einem Konflikt. Rolle Medizinstudent*in, Rolle studentischen Hilfskraft, Rolle WG-Bewohner*in, etc. Konflikte innerhalb einer Rolle heißen Intrarollenkonflikte, wie z. B. die Erwartungen an Ärzt*innen von der Pflege und die völlig anderen Erwartungen der Patient*innen.
Das Umfeld sanktioniert die Rollenkonformität mit positiven Sanktionen (Lob, Dank, Zustimmung, etc.) und negative Sanktionen (Strafen, Unverständnis, Missbilligung).
Im Studium werden Medizinstudent*innen im klinischen Abschnitt nur sehr kurz im Bereich der Arbeitsmedizin/Sozialmedizin mit dem Gesundheits- und Sozialsystem konfrontiert. Dabei sind Krankschreibungen, Reha-Anträge und Kategorisierung in Pflegestufen ein bürokratischer Dschungel, der als frisch gebackene*r Assistenzärzt*in kaum zu durchblicken ist. Wichtige Grundbegriffe, verschiedene Stufen von Krankheit rechtlich zu definieren, sind:
Gesellschaftlich ist Krankheit ein Zustand, der vom Normalzustand abweicht. Dieser abweichende Zustand soll möglichst verändert oder wiederhergestellt werden: Dafür existieren bestimmte Regeln, die bei Ausfüllen oder Missachten dieser positiv oder negativ sanktioniert werden. Die Krankheit des Einzelnen ist keine individuelle Angelegenheit, sondern bedeutet auch für die Gesellschaft Einschnitte (z. B. hoher Kostenfaktor bei chronischen Erkrankungen oder die zusätzliche Arbeit, die bei Ausfall von Kolleg*innen übernommen werden muss).
Besonders hervorzuheben ist der unterschiedliche Blick der Gesellschaft auf Krankheiten organischen oder psychischen Ursprungs. Patient*innen mit psychischen Erkrankungen sind teils schwerwiegenden Stigmatisierungen ausgesetzt. Die häufige Chronifizierung psychischer Erkrankungen verstärkt die negative gesellschaftliche Bewertung der Betroffenen.