Sozialpsychologische und soziologische Modelle zum Verständnis von Krankheit und Gesundheit rücken diejenigen Einflussgrößen in den Fokus, die durch soziales Handeln von Menschen geschaffen werden. Diese Einflussgrößen sind zahlreich und stammen aus verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens. Gesundheit und Krankheit werden u. a. durch gesellschaftliche Normen, die Zugehörigkeit einer sozialen Schicht, Einkommen, Beruf und Bildung. Auch der demografische Wandel spielt im Rahmen von Gesundheit und Gesundheitssystem Gesundheitssystem Gesundheitssystem eine essenzielle Rolle innerhalb der Gesellschaft.
Kostenloser
Download
Lernleitfaden
Medizin ➜
Verhaltensmodelle und psychologische Modelle stellen das Individuum zur Erklärung von Krankheit und Gesundheit in den Vordergrund. Soziologische Modelle fokussieren sich auf den Einfluss sozialer Strukturen, auf Gesundheit und Krankheit. Dabei spielen die Gesellschaftsstruktur, die Wirtschaftsform und die Organisation der Gesundheitssicherung –und Erhaltung (z. B. der Aufbau der Krankenversicherungsstruktur) eine wichtige Rolle.
Normen sind Regelsysteme einer Gesellschaft, die sich auf das Verhalten der Gesellschaftsmitglieder beziehen. Normkonformes Verhalten wird verstärkt und belohnt, normabweichendes Verhalten (Devianz) sanktioniert. Von der Gesellschaft werden unterschiedlichste Erwartungen in Bezug auf die Verhaltensnormen an die Einzelperson herangetragen: Negativ kann sich das auf den physischen und psychischen Gesundheitszustand des Menschen auswirken, wenn er von der Gesellschaft aufgrund seines normabweichenden Verhaltens bestraft wird (z. B. Kündigung am Arbeitsplatz).
Eine soziale Schicht ist dadurch charakterisiert, dass sich Personengruppen in einer ähnlichen oder sogar gleichen Lebenslage befinden inklusive Lebens- und Arbeitsbedingungen auf einem Niveau. Fast alle Gesellschaftsmitglieder teilen ihre Mitmenschen in bestimmte Kategorien ein. Das erste Abschätzen erfolgt anhand von äußerem Erscheinungsbild, Sprache, Kleidung und beruflicher Tätigkeit. Soziale Schichten verhalten sich hierarchisch zueinander und genießen unterschiedliches Ansehen in der Gesellschaft. In Deutschland hat sich in vielen Studien immer wieder gezeigt, dass Angehörige verschiedener sozialer Schichten unterschiedliches Krankheits- und Gesundheitsverhalten zeigen.
Das Konzept der sozialen Schichtung ist ein Schlüsselbegriff der Soziologie. Schichtbegriffe und Schichtmodelle werden unterteilt nach Bildung, Einkommen und Berufsschicht. Dieser soziale Schichtindex (meritokratische Triade) wird als wichtige Ressource für die Lebenschancen angesehen.
Aufgrund seiner Herkunft wird einem Menschen der zugeschriebene Status zugewiesen. Der erworbene Status bezeichnet den Status, den sich ein Mensch durch seine Leistung, seine eigenen Fähigkeiten und Bemühungen selbst erwirbt.
Das meritokratische Prinzip sieht vor, dass Positionen und Belohnungen nur nach Leistungen des Individuums vergeben werden und nicht nach dem zugeschriebenen Status (Geschlecht, Herkunft, Elternhaus, ethnische Zugehörigkeit).
An der sozialen Mobilität kann man die Offenheit einer Gesellschaft ablesen: Die Möglichkeit, unter vorherrschenden Rahmenbedingungen mittels eigener Fähigkeiten und Anstrengungen die eigene soziale Position zu beeinflussen.
Am Beispiel des Mittelalters und dessen Ständegesellschaft können eine extrem niedrige soziale Mobilität verdeutlicht werden. Aktuell zeigt sich jedoch aufgrund der Rezession ebenfalls ein Rückgang der sozialen Mobilität in den Industrialisierungsländern.
Armut, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Randgruppe kann die Ausgrenzung aus der Gesellschaft bedeuten, die soziale Deprivation. Unabhängig von Ausbildung und Berufstätigkeit wirkt die soziale Deprivation negativ auf die Gesundheit.
Bei unteren sozialen Schichten | Bei höheren sozialen Schichten |
---|---|
Allgemein instrumentelles Verhältnis zum Körper: „Solange alles funktioniert, braucht man nicht zum Arzt gehen.“ | Körper hat Symbolwert, Gesundheit gilt als Wert an sich |
Höhere Symptomtoleranz und häufigere Non-Compliance | Besserer Zugang zu gesundheitsrelevanten Informationen |
Arbeiter*innen nehmen seltener eine Krebsfrüherkennung in Anspruch und besitzen ein höheres Risiko der Frühinvalidität als Angestellte. | Bevölkerungsgruppen mit gehobenem Status haben häufiger allergische Erkrankungen und Erkrankungen des atopischen Formenkreises. |
Menschen aus sozial schwachen Schichten nehmen Schwangerschaftsvorsorge und Krankheitsfrüherkennung seltener in Anspruch. | Anorexia nervosa Anorexia nervosa Anorexia nervosa ist eine Erkrankung der Mittel- und Oberschicht. |
Soziale Schichtgradienten beschreiben die Abnahme des betroffenen Bevölkerungsteils bei höheren Schichten, z. B. bei Adipositas Adipositas Adipositas, Alkohol– und Nikotinmissbrauch und Prävalenz psychischer Erkrankungen. Zwei Theorien liefern Erklärungsansätze für das Entstehen dieses sozialen Schichtgradienten: soziogene Hypothese und soziale Drifthypothese. Die soziogene Hypothese ist hinreichender belegt als die Drifthypothese. Letztere konnte vorwiegend im Bereich psychischer Erkrankungen beobachtet werden, v. a. bei schizophrenen Personen.
Soziogene Hypothese (Verursachungshypothese)
Die Ursache für die Ungleichverteilung von Gesundheit und Krankheit liegt in der höheren gesundheitsgefährdenden Belastung (höhere Umweltverschmutzung, schlechtere Bedingungen am Arbeitsplatz, etc.) und Risikoverhalten (Ernährung, Substanzenmissbrauch, Bewegungsverhalten, etc.), was mit entsprechender Schichtzugehörigkeit einhergeht.
Soziale Drifthypothese (Selektionshypothese)
Die soziale Drifthypothese argumentiert genau aus der anderen Richtung. Sie nimmt an, dass die ungleiche Verteilung von Gesundheit und Krankheit dadurch entsteht, dass Krankheiten sozialen Abstieg forcieren oder sozialen Aufstieg gar nicht erst zulassen. Dieses soziale Abdriften wird also als Folge einer Erkrankung angesehen.
Hohe berufliche Belastungen wirken sich längerfristig negativ auf die Gesundheit aus. Arbeiter*innen sind oft von körperlicher Schwerstarbeit und Schichtarbeit betroffen, was physische Erkrankungen fördert. Ärzt*innen z. B. sind sehr hohen psychischen Belastungen ausgesetzt wie hoher Verantwortung, hoher Zeitdruck, hohe Erwartungshaltung von vielen Seiten (Patient*innen, Angehörige, Kolleg*innen, Familie, etc.).
Bereits der subjektive Eindruck von Arbeitsplatzunsicherheit wirkt stressauslösend!
Zur Auswirkung von Stress im Berufsleben sind zwei Modelle entwickelt worden, die den Zusammenhang von stressauslösenden Faktoren im Arbeitsleben und dem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen beschreiben.
Aus zwei Dimensionen lassen sich beim Anforderungs-Kontroll-Modell die Belastungen am Arbeitsplatz ableiten:
Ein ausgeprägter sozialer Rückhalt kann als Stresspuffer wirken und die hohe Arbeitsbelastung entschärfen.
Große Menge an Anforderungen + geringe Kontrollierbarkeit = hohe Belastung am Arbeitsplatz (Beispiel: Fließbandarbeit)
Wie der Name schon sagt, rückt das Modell beruflicher Gratifikationskrisen das Verhältnis von beruflicher Verausgabung und der dafür erhaltenen Belohnung (Vergütung, soziale Anerkennung) in den Fokus. Als Puffer wirken auch hier sozialer Rückhalt und Einstellung (Lebensziele, psychische Stabilität, etc.)
Hoher persönlicher Einsatz + niedere Gratifikation = hohe Belastung am Arbeitsplatz (Beispiel: alleinerziehendes Elternteil)
Die wirtschaftliche und finanzielle Situation eines Landes hat großen Einfluss auf die gesundheitliche Situation des Einzelnen. Ebenfalls bedeutsam ist die Struktur des Gesundheitssystems: staatlich oder privatisiert. Während in Deutschland alle Bürger*innen eine Krankenversicherung haben müssen, haben z. B. in den USA viele Menschen niederer sozialer Schichten keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Tendenz, dass Menschen höherer sozialer Schichten eine bessere medizinische Versorgung erhalten, ist jedoch auch in Deutschland gegeben (Privatpatient*innen versus Kassenpatient*innen). Die immensen Auswirkungen der ökonomischen Faktoren auf die Gesundheit lassen sich anhand der Lebenserwartungen am Beispiel der hoch industrialisierten Länder und der Schwellenländer ablesen.
Durchschnittliche Lebenserwartung von Männern* 2005–2010:
Demografie: Bevölkerungswissenschaft vereint Elemente aus Soziologie, Geografie, Medizin und Ökonomie und untersucht Leben, Werden und Vergehen menschlicher Bevölkerungen.
Bevölkerungspyramiden veranschaulichen grafisch alle Altersgruppen einer Bevölkerung zu einem gewissen Zeitpunkt. Für die Interpretation einer Bevölkerungspyramide ist wichtig:
Die idealtypischen Grundformen sind in folgender Grafik dargestellt:
Deutschland befindet sich im Übergang von Urnen- zu Pilzform: immer höheres Geburtendefizit mit einem Überhang älterer Menschen bei insgesamt schrumpfender Bevölkerung
Während der Industrialisierung eines Landes kommt es zu Veränderungen der generativen Bevölkerungsstruktur. Obwohl diese Theorie aus den 1920er Jahren stammt, hat sie noch heute Einfluss auf die Denkweise der Bevölkerungswissenschaft. Die 5 Phasen beschreiben die Transformation von aufstrebenden Gesellschaften: Zunächst dominieren hohe Geburt- und Sterbeziffern, im Zuge der Industrialisierung und Modernisierung stagnieren die Geburten, die Bevölkerung schrumpft und die Lebenserwartung nimmt zu. Deutschland und die meisten anderen Industriestaaten befinden sich in Phase 5.
Die 5 Phasen der demografischen Transformation
Die epidemiologische Transition beschreibt die Veränderung der Häufigkeit von Krankheiten und Todesursachen. In modernen Gesellschaften haben chronisch-degenerative Krankheiten die akuten Infektionskrankheiten abgelöst.
Konsequenz für die ärztliche Tätigkeit:
Die medizinische Behandlung zielt meist nicht mehr auf Heilung, sondern auf Erhaltung der Lebensqualität der Patient*innen: rehabilitative Maßnahmen statt kurativer Tätigkeit. Das demografische Altern hat Auswirkungen auf die Gesundheits- und Sozialpolitik. Eines der Ziele ist die Kompression der Morbidität: Krankheiten und Behinderungen sollen auf einen möglichst kurzen Abschnitt vor dem Tod komprimiert werden. Die Gesundheit soll also auch im Alter möglichst lange erhalten werden, um die immensen Kosten chronischer Erkrankungen so gering wie möglich zu halten.
Das Kontraktionsgesetz beschreibt den historischen Trend zu immer kleiner werdenden Familien mit der Folge, dass die Solidarität der Menschen sich nur noch auf immer engere Kreise bezieht.
Die Entwicklung dieser soziologischen These hat folgenden Hintergrund: Der Staat übernimmt immer mehr soziale Sicherungsaufgaben und damit die Funktion der Kernfamilie. Einige Veränderungen sind tatsächlich mit dem Kontraktionsgesetz erklärbar, meistens ist aber auch heute noch die Kernfamilie das wichtigste soziale und finanzielle Netz.
Unbestrittener Fakt ist jedoch, dass Ein- und Zweifamilienhaushalte in Deutschland kontinuierlich zunehmen und kaum noch Mehrgenerationenhaushalte existieren. Hinzu kommt, dass beide Partner*innen in einer Familie meist berufstätig sind. Die Folgen für das Gesundheitssystem Gesundheitssystem Gesundheitssystem sind die sich verändernde Organisation von kranken und alten Menschen. Es existiert ein immer größer werdender Bedarf an Krankenhausbetten, Pflege- und Altenheimen und Angeboten zur Kinderbetreuung.