I. Bisherige Entwicklung
Bereits am 09.11.2011 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die damalige 5%-Sperrklausel nicht mit der Verfassung zu vereinbaren sei [BVerfGE 129, 300]. Die Entscheidung fiel denkbar knapp mit 5 zu 3 Stimmen aus. Dass es sich hierbei um eine umstrittene Rechtsfrage handelte, ist somit evident.
Wohl aufgrund dieser knappen Abstimmung und dem Aufruf des Europäischen Parlaments an alle Mitgliedsstaaten, angemessene Sperrklauseln einzuführen (Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22.11.2012 zu den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahr 2014 (2012/2829 [RSP])) wurde durch eine Gesetzesänderung eine 3%-Klausel eingeführt.
Durch mehrere erhobene Verfassungsbeschwerden und Anträge im Organstreitverfahren, welche vom Bundesverfassungsgericht zur gemeinsamen Entscheidung verbunden wurden, erklärte dieses ebenfalls mit 5 zu 3 Stimmen die neue 3%-Klausel für verfassungswidrig.
II. Entscheidungsgründe
Bei der Einführung der Sperrklausel handelte der Gesetzgeber in eigener Sache, da dies zumindest mittelbar auch den Gesetzgeber selbst betraf. Dass es hierbei zu einem Missbrauch durch die vorherrschenden Parteien kommen kann, indem diese andere benachteiligen, sah auch das Bundesverfassungsgericht. Gerade durch die Einführung einer Sperrklausel lassen sich andere Parteien von der politischen Teilhabe ausschließen.
Dass das Bundesverfassungsgericht sich, obwohl es sich hier um einen stark europarechtlichen Sachverhalt handelte, überhaupt als zuständig ansah, ergibt sich aus folgender Überlegung:
Gemäß Art. 3 Direktwahlakt (DWA) haben die Staaten die Möglichkeit bei der Wahl zum Europäischen Parlament eine Sperrklausel von bis zu 5% einzuführen. Das Wahlverfahren selbst bestimmt sich allerdings nach innerstaatlichem Recht, in Deutschland somit dem EuWG. Da es sich um innerstaatliches Recht handelt, prüft das Bundesverfassungsgericht auch hier ob eine Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz gegeben ist.
1. Betroffenes Verfassungsrecht
Verletzt ist zunächst der Grundsatz der Gleichheit der Wahl aus Art. 3 Abs. 1 GG. Nicht anwendbar sollen Art. 38 Abs. 1 GG und Art. 28 Abs. 1 GG sein, da diese sich nur auf die Wahl zum Deutschen Bundestag beziehen. Es kommt insofern nur eine formale Wahlgleichheit nach Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht.
Zu unterscheiden ist zwischen Zähl- und Erfolgswertgleichheit. Durch Sperrklauseln wird die Erfolgswertgleichheit betroffen, da nicht jede abgegebene Stimme dazu führt, dass ein entsprechendes Mandat errungen wird. Es fehlt dann am Erfolg der Stimme. Ausnahmsweise soll die Erfolgswertgleichheit eingeschränkt werden können.
Auch die Chancengleichheit der Parteien gem. Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG muss beachtet werden. Die Verletzung dieses Grundsatzes ergibt sich aus denselben Gründen, wie die Verletzung der Gleichheit der Wahl.
2. Rechtfertigung des Eingriffs
Eine mögliche Rechtfertigung eines Eingriffs in diese Grundsätze ist jedoch bei Vorliegen eines sachlich legitimierten zwingenden Grundes durchaus möglich. Diese Rechtfertigung muss jedoch verfassungsmäßig legitimiert sein und mindestens ebenso wichtig sein, wie das Prinzip der Wahlrechts- und Chancengleichheit.
Als Rechtfertigungsgrund kommt die Wahrung der Funktionsfähigkeit des Parlaments in Betracht. Diese gilt auch als Rechtfertigung für die 5%-Sperrklausel für den Deutschen Bundestag. Eine Rechtfertigung ist insoweit nur anzunehmen, wenn aller Voraussicht nach zu erwarten ist, dass die Funktionsfähigkeit des Parlaments hinreichend beeinträchtigt ist.
Das Gericht betont, dass bei der Feststellung dieses Umstands die Funktion des Organs, sowie tatsächliche gegenwärtige Umstände zu berücksichtigen sind. Eine grundsätzliche Sperrklausel ohne Bezug auf die aktuellen tatsächlichen Umstände ist demnach unzulässig.
3. Weitere Gründe gegen eine Sperrklausel
Ebenso ist zu berücksichtigen, dass sich das Europäische Parlament wesentlich vom Bundestag unterscheidet. Weder gibt es Mehrheit und Opposition im klassischen Sinne, noch muss eine Mehrheitsregierung gestellt werden. Daraus schließt das Bundesverfassungsgericht, dass bei Fehlen einer Sperrklausel die Funktionsfähigkeit des Parlaments nicht beeinträchtigt wäre.
Auch fasst es die oben genannte Entschließung des Europäischen Parlaments vom 22.11.2012 als bloß unverbindlichen Appell an die einzelnen Mitgliedstaaten auf, Sperrklauseln festzulegen. Auch die Fraktionsbildung auf europäischer Ebene trage zur Stabilität des Europäischen Parlamentes bei.
Das Gericht betont jedoch, dass zukünftige Entwicklungen zu beobachten seien. Kommt es also zu einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments durch zu große Zersplitterung, kann die Einführung einer Sperrklausel gerechtfertigt sein. Auch eine positive Entwicklung durch das Entfallen der Sperrklausel schließt das Gericht nicht aus.
Die Entscheidung war zudem nötig, da die 3%-Sperrklausel nicht identisch mit der alten 5%-Sperrklausel ist. Auch hatte der Gesetzgeber die Möglichkeit, ein neues Gesetz zu verabschieden, da es in seinem Ermessen liegt, ob sich die Verhältnisse im Europäischen Parlament geändert haben.
III. Sondervotum des Richters Müller
Richter Müller erklärte sich mit der Entscheidung nicht einverstanden und erklärte ein Sondervotum, in welchem er seine Kritik an dem Urteil äußert:
- Seiner Auffassung nach werden zu hohe Anforderungen für die Feststellung der Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlamentes gestellt.
- Auch werde die gesetzgeberische Einschätzungsprärogative nicht hinreichend beachtet.
- Dass das Europäische Parlament eine Sonderstellung einnimmt und sich vom Bundestag unterscheidet sei bezüglich der Annahme einer Sperrklausel ohne Bedeutung.
IV. Fazit
Durch dieses Urteil stellt das Bundesverfassungsgericht klar, dass Sperrklauseln nur in Ausnahmefällen zur Anwendung kommen sollen. Dies könnte auch Folgen für Landtags- oder Bundestagswahlen haben. Dort wird aller Voraussicht nach jedoch in naher Zukunft nicht mit einer Abkehr der dortigen Sperrklauseln zu rechnen sein.