I. Der schuldunfähige Täter und seine Folge, §§ 20, 323a StGB
§ 20 StGB:
Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat […], wegen einer tiefgreifenden Bewußtsseinstörung […] unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.
In der strafrechtlichen Klausur kann es passieren, dass man es mit einem schuldunfähigen Täter (§ 20 StGB) zu tun bekommt. In diesem Fall sollte man stets die Rechtsfigur der actio libera in causa im Hinterkopf behalten. Der Name bedeutet „eine bei der Verursachung freie Handlung“.
Definition: Der Täter führt dabei zunächst seine Schuldunfähigkeit herbei (actio praecedens) um später in diesem Zustand anschließend eine rechtswidrige Tat (actio subsequens)zu begehen.
Die Schuldunfähigkeit erreicht der Täter häufig durch Alkoholkonsum.
Beispiel: Theo (T) will seinen Nebenbuhler Otto (O) erschlagen. Deshalb hat er sein Auto vor dessen Haus geparkt. Hier trinkt T 1,5 Flaschen Wodka, bevor er schließlich O aus einem Hinterhalt auf seiner Veranda – mit einem BAK von 3,3 ‰ – erschießt. Strafbarkeit des T?
An sich wäre T aufgrund der heimtückischen Begehungsweise wegen Mordes nach § 211 StGB zu bestrafen. Es gilt jedoch das sogenannte Koinzidenzprinzip, das sich aus § 20 StGB ergibt. Danach wird gefragt, ob der Täter bei Begehung der Tat schuldhaft handelte. Durch das Betrinken ist T zum Zeitpunkt der Tatbegehung aber grundsätzlich schuldunfähig (BAK von 3,3 ‰), weshalb eine Strafbarkeit wegen Mordes nicht in einschlägig ist.
Abhilfe schafft allenfalls § 323a StGB („Vollrausch“), wonach derjenige bestraft wird, der sich vorsätzlich oder fahrlässig durch Alkohol oder andere berauschende Mittel in einen Rausch versetzt und anschließend eine rechtswidrige Tat begeht, aber ihretwegen nicht bestraft werden kann, weil er schuldunfähig ist oder dies nicht ausgeschlossen werden kann.
(Theorie des Unvereinbarkeitsmodel)
Vor dem Hintergrund, dass für eine Vollrauschtat eine Freiheitsstrafe von bis zu 5 Jahren, bei Mord hingegen eine lebenslange Freiheitsstrafe droht, erscheint diese Bewertung allerdings als nicht gerecht. Um dieses Missverhältnis zu korrigieren, wurde das Konstrukt der sog. a.l.i.c. entwickelt.
II. Vorsätzliche und fahrlässige actio libera in causa
Dabei kann grundsätzlich zwischen der vorsätzlichen und der fahrlässigen actio libera in causa unterschieden werden, wobei heutzutage nur noch die vorsätzliche von Bedeutung ist.
Definition: Eine vorsätzliche a.l.i.c. liegt vor, wenn der Täter vorsätzlich seine Schuldunfähigkeit herbeiführt und die spätere Tat ebenfalls vorsätzlich begeht. Schon bei der Herbeiführung der Schuldunfähigkeit muss er den Vorsatz hinsichtlich der späteren Tatbegehung gehabt haben.
Die Konstruktion einer fahrlässigen a.l.i.c. wird hingegen als überflüssig angesehen.
Beispiel für die fahrlässige a.l.i.c.: T fährt nach der Tötung des O nach Hause. Aufgrund seiner Trunkenheit überfährt er unterwegs den Passanten P. Strafbarkeit des T?
In diesem Fall ist T wegen fahrlässiger Tötung nach § 222 StGB zu bestrafen. Der Fahrlässigkeitsvorwurf kann dabei an das Trinken der 1,5 Flaschen Wodka kurz vor der Autofahrt geknüpft werden. Die Konstruktion der a.l.i.c. ist für eine Strafbarkeitsbegründung in diesem Fall also nicht nötig (vgl. BGHSt 42, 235 (236/237).
III. Die Theorien zur Begründung der a.l.i.c.
Während einige die Konstruktion der actio libera in causa als unzulässig ablehnen, ist ihre dogmatische Begründung auch unter ihren Befürwortern umstritten.
Dabei werden das Ausnahmemodell und das Ausdehnungsmodell innerhalb der Schuldebene geprüft und (vorweggenommen) abgelehnt. Daraufhin wird eine erneute Strafbarkeit geprüft, welche in Verbindung mit dem idR vorangegangenem Trinkverhalten und der a.l.i.c. Konstruktion steht. Dort wird sodann innerhalb des Tatbestandes das Werkzeugmodell und das Vorverlagerungsmodell geprüft und erläutert.
Demnach müssen vier verschiedene Begründungsmodelle in der Klausur angesprochen werden:
AUF DER SCHULDEBENE VOM DELIKT DER VORGENOMMENEN TATHANDLUNG:
1. Das Ausnahmemodell
Im Rahmen des Ausnahmemodells wird argumentiert, dass in dem Fall der a.l.i.c. eine Ausnahme von dem in § 20 StGB normierten Grundsatz vorliege, dass der Täter bei der Tatbegehung schuldfähig sein müsse. Dies wird unter anderem mit einer teleologischen Reduktion bzw. damit begründet, dass es von Seiten des Täters rechtsmissbräuchlich wäre, sich auf seine Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB zu berufen.
Gegen diese Theorie spricht allerdings schon Art. 103 Abs. 2 GG. Dieser normiert, dass eine Tat nur bestraft werden kann, wenn ihre Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor sie begangen wurde. Das Ausnahmemodell ist demnach abzulehnen.
2. Das Ausdehnungsmodell
Im Rahmen des Ausdehnungsmodells wird das Erfordernis „bei Begehung der Tat“ des § 20 StGB auf das Versetzen in den Rausch, das eigentlich als eine Vorbereitungshandlung angesehen wird, ausgedehnt.
Das Ausdehnungsmodell kann mit der Begründung abgelehnt werden, dass nicht ersichtlich ist, warum der Gesetzgeber den Ausdruck „bei Begehung der Tat“ in § 20 StGB anders als in §§ 16 Abs. 1, Abs. 2, 17 StGB verstanden haben will (BGH NJW 1997, 138 (140)).
AUF DER TATBESTANDSEBENE VOM DELIKT BEZOGEN AUF DAS SICH BETRINKEN:
3. Das Werkzeugmodell
Ein anderer Ansatz liegt dem sogenannten Werkzeugmodell zugrunde. Demnach setze sich der Täter bei der Tatbegehung selbst als schuldunfähiges Werkzeug ein. Dies entspricht der mittelbaren Täterschaft nach § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB.
Hiergegen lässt sich aber einwenden, dass es bereits fraglich ist, ob eine mittelbare Täterschaft mit sich selbst als Werkzeug überhaupt möglich ist. Dagegen spricht der Wortlaut des § 25 Abs. 1 Var. 2 StGB, der eine Tatbegehung „durch einen anderen“ vorsieht.
4. Das Tatbestandsmodell / Vorverlagerungsmodell
Schließlich gilt es noch, die Tatbestandslösung in der Klausur zu erörtern. Nach dieser wird das Versetzen in den Rauschzustand bereits als tatbestandsmäßige Handlung betrachtet. Dies geht allerdings nur bei sog. verhaltensneutralen Delikten, bei denen keine konkrete Handlung gefordert wird.
Für diese Ansicht spricht, dass mit ihrer Hilfe ein Verstoß gegen das in § 20 StGB normierte Koinzidenzprinzip vermieden wird.
Dieses Modell ist demnach als vorzugswürdig für die dogmatische Begründung der a.l.i.c. zu betrachten.
Beachte: bei verhaltensgebundenen Delikten wird die Anwendung der a.l.i.c. (unabhängig, ob vorsätzlich oder fahrlässig) abgelehnt. Dies hat der BGH für die Straßenverkehrsdelikte entschieden (BGHSt 42, 235 (235)).
IV. Die Theorien im Überblick
V. Prüfungsschema der a.l.i.c.
- I. Prüfung des Vorsatzdelikts unter Anknüpfung an die eigentliche Tat
- 1. Tatbestand
- 2. Rechtswidrigkeit
- 3. Schuld
- a) Schuldunfähigkeit gemäß § 20 StGB
- b) actio libera in causa
- (1) Unvereinbarkeitsmodell – Kritik: Strafbarkeitslücken
- (2) Ausdehnungsmodell – Kritik: Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG
- (3) Ausnahmemodell – Kritik: Verstoß gegen Art. 103 Abs. 2 GG
- II. Prüfung des Vorsatzdelikts unter Anknüpfung an die Herbeiführung des Defektzustandes
- 1. Tatbestand (tatbestandliches sich Betrinken)
- a) Modell der mittelbaren Täterschaft – Kritik: Wortlaut des § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB
- b) Tatbestandsmodell – Folgen
- 2. Rechtswidrigkeit
- 3. Schuld: Keine Schuldunfähigkeit zum Zeitpunkt des sich Betrinkens, § 20 StGB
- 1. Tatbestand (tatbestandliches sich Betrinken)
- III. Ergebnis: Strafbarkeit aus dem Vorsatzdelikt, Verdrängung des § 323a StGB
Quellen
- Ambos, NJW 1997, 2296.
- Streng, JuS 2001, 540.
- Rönnau, JuS 2010, 300.
- Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 42. Aufl. 2012, Rn. 415