I. Auslegung von Willenserklärungen
Bei der Auslegung wird der tatsächliche Wille des Erklärenden vom Erklärten ausgehend ermittelt. §§ 133, 157 BGB dienen der Auslegung von Willenserklärungen.
§ 133 BGB stellt die Basisnorm dar und lautet:
Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.
Hinsichtlich der Auslegung ist zunächst zu unterscheiden, ob es sich um eine empfangsbedürftige oder nicht empfangsbedürftige Willenserklärung handelt.
1. Ausnahme: Nicht empfangsbedürftige Willenserklärungen
Nicht empfangsbedürftige Willenserklärungen haben keinen Erklärungsempfänger. Daher ist eine solche Willenserklärung nur gem. § 133 BGB (NICHT: § 157 BGB) so auszulegen, dass der wirkliche Wille des Erklärenden zum Tragen kommt. Dies wird auch natürliche Auslegung genannt.
Der wohl wichtigste Fall der nicht empfangsbedürftigen Willenserklärung ist die Errichtung eines Testaments nach § 2247 BGB (siehe auch § 2084 BGB). Die Auslegung von Verfügungen von Todes wegen wird in folgendem Artikel behandelt: Verfügungen von Todes wegen.
2. Empfangsbedürftige Willenserklärungen
In den allermeisten Fällen wird es sich allerdings um empfangsbedürftige Willenserklärungen handeln, welche der Auslegung bedürfen. Das Problem bei solchen Erklärungen ist, ob das gelten soll, was der Erklärende gemeint hat, oder das, was der Empfänger verstanden hat oder ein objektiver Dritter verstehen konnte.
Ein klassischer Fall ist etwa der des Klopapierkaufs:
A kauft 25 Gros Toilettenpapier bei B in der Vorstellung, es handele sich um 25 große Packungen. Tatsächlich ist ein Gros zwölf Duzend. Hat A 25 oder 3600 Packungen gekauft?
In dem Fall wird A offensichtlich nicht 3600 Packungen haben wollen, B wird allerdings ein Interesse an Zahlung haben, insbesondere wenn er schon Aufwandskosten hatte. Bei solchen Fällen ist somit ein Ausgleich zu finden zwischen dem Schutz der Privatautonomie und dem Schutz des Rechtsverkehrs.
Würde hier nur allein § 133 BGB angewendet werden, würde sich A durchsetzen. Dies wäre gegenüber B unbillig, da er keinerlei Verantwortung dafür trägt, dass A falsche Vorstellungen hatte. Der Erklärungsempfänger ist somit ebenso zu schützen wie der Erklärende. Hier ist nun § 157 BGB heranzuziehen. Dieser lautet wie folgt:
Verträge sind so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.
Wenn der Empfänger die Willenserklärung so verstanden hat, wie der Erklärende sie gemeint hat (etwa wenn auch B glaubt, es handele sich um große Packungen), gilt das gemeinte. Auf diesen Grundsatz der „falsa demonstratio non nocet“ geht dieser Artikel ein: Walfleisch oder Haifleisch?
Häufig wird es jedoch wie im oben genannten Beispiel vorkommen, dass der Empfänger etwas anderes versteht, als der Erklärende zum Ausdruck bringen will. Dann ist auf den objektiven Empfängerhorizont abzustellen (sog. Auslegung nach dem Empfängerhorizont).
Dabei ist zu fragen: Wie hätte ein objektiver vernünftiger Dritter in der Position des Erklärungsempfängers unter Berücksichtigung der Verkehrssitte nach Treu und Glauben die Erklärung verstanden?
Dieser objektive Dritte steht anstelle des eigentliches Empfängers und verfügt somit über sämtliches Vor- und Sonderwissen des Empfängers, etwa über vorherige geschäftliche Kontakte der Parteien. Zudem gehört er dem Verkehrskreis des Empfängers an und hat somit ggf. vorhandenes Fachwissen.
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II. Ergänzende Vertragsauslegung
Bei der ergänzenden Auslegung wird ein lückenhaftes Rechtsgeschäft ergänzt. Voraussetzung hierfür ist eine planwidrige Lücke im Rechtsgeschäft. Eine solche kann etwa vorliegen, wenn die Vertragsparteien vergessen haben, sich über einen bestimmten Punkt zu einigen. Allerdings geht dispositives Gesetzesrecht der ergänzenden Auslegung vor.
Zur Lückenfüllung nach § 157 BGB wird nach dem hypothetischen Parteiwillen gefragt. Dieser beinhaltet, was die Parteien bei redlicher Denkweise als gerechten Ausgleich empfunden hätten. Eine Lückenschließung scheidet jedoch aus, wenn durch diese der Vertragsgegenstand erweitert würde, eine weitergehende Bindung begründen würde oder mehrere Füllmöglichkeiten bestehen und unklar ist, welche die Parteien bevorzugen würden.
III. Auslegung von Schweigen
Fraglich ist, wie das Schweigen einer Vertragspartei auszulegen ist. Grundsätzlich hat Schweigen keinen Bedeutungsgehalt, außer es ist vertraglich vereinbart (beredtes Schweigen). Weitere Ausnahmen stellen gesetzliche Regelungen (bspw. §§ 108 Abs. 2 S. 2, 177 Abs. 2 S. 2, 1943 BGB) und das kaufmännische Bestätigungsschreiben dar.
IV. Auslegung bei Online-Verkäufen („ebay-Fälle“)
Immer beliebter werden Klausuren zu Online-Verkäufen, insb. rund um die Plattform ebay.
Bei der automatischen Verarbeitung von Willenserklärungen durch automatisierte Systeme gilt grds. ebenso der objektive Empfängerhorizont. Allerdings haben individuelle Vereinbarungen (wie bspw. die Produktbeschreibung) Vorrang. Ggf. sind auch die AGB der Plattform zur Auslegung heranzuziehen, da die Parteien diesen bei Nutzung der Plattform zugestimmt haben. Die AGB sind dann als Verkehrssitte i.S.d. § 157 BGB anzusehen.
V. Abgrenzungen
Die Vertragsauslegung nach dem objektiven Empfängerhorizont bleibt natürlich außer Betracht, wenn ein Fall des § 150 Abs. 2 BGB vorliegt. Dies sollte bei der Fallprüfung nicht aus dem Blickfeld geraten. Die Auslegung geht allerdings den Regelungen aus §§ 140, 155 BGB vor.
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Quellen
- Brox, Hans/Walker, Wolf-Dietrich: Allgemeiner Teil des BGB, 43. Auflage 2019.
- Faust, Florian: Bürgerliches Gesetzbuch Allgemeiner Teil, 4. Auflage 2014.
- Jacoby, Florian / von Hinden, Michael: Bürgerliches Gesetzbuch Studienkommentar, 14. Auflage 2013.
- Musielak, Hans-Joachim / Hau, Wolfgang: Grundkurs BGB, 13. Auflage 2013.