I. Allgemein
§ 127 Abs. 1 StPO besagt:
Wird jemand auf frischer Tat betroffen oder verfolgt, so ist, wenn er der Flucht verdächtig ist oder seine Identität nicht sofort festgestellt werden kann, jedermann befugt, ihn auch ohne richterliche Anordnung vorläufig festzunehmen.
In Absatz 1 des § 127 StPO wird dem Bürger damit eine öffentliche Aufgabe übertragen, denn eigentlich ist die Festnahme Aufgabe der Polizei. Der Festnehmende muss nicht volljährig sein. Die Festnahmeberechtigung entfällt jedoch, sobald ein Polizeibeamter zugegen ist
Dieses „Festnahmerecht“ stellt neben den §§ 32, 34 StGB und §§ 228, 904 BGB einen wichtigen Rechtfertigungsgrund dar. Relevant wird er immer dann, wenn jemand einen anderen bei der Begehung einer Straftat erwischt, und ihn anschließend festhält, am Weggehen hindert oder dabei verletzt.
Beispiel: A geht die Straße entlang. Dabei sieht er, wie der einige Meter vor ihm laufende B plötzlich der Frau F die Handtasche entreißt und wegrennt. A rennt ihm hinterher. Als er ihn einholt, hält er ihn am Boden fest und hindert ihn am Weggehen, bis die Polizei eintrifft. Hat sich A gem. § 239 Abs. 1 StGB strafbar gemacht?
Prüfungsschema:
- I. Festnahmelage
- 1. Auf frischer Tat betroffen oder verfolgt
- 2. Tauglicher Festnahmegrund
- II. Festnahmehandlung
- 1. Objektive Erforderlichkeit
- 2. Verhältnismäßigkeit
- III. Subjektives Rechtfertigungselement
- 1. Kenntnis der rechtfertigenden Umstände
- 2. Handeln in Festnahmeabsicht
II. Voraussetzungen des § 127 Abs. 1 StPO
Dem Rechtfertigungsgrund des § 127 Abs. 1 StPO liegt dasselbe Schema zugrunde wie den Rechtfertigungsgründen des materiellen Strafrechts: Es bedarf einer objektiven Rechtfertigungslage, einer geeigneten Rechtfertigungshandlung und schließlich eines subjektiven Rechtfertigungselements.
1. Festnahmelage
a. Auf frischer Tat betroffen oder verfolgt
Voraussetzung für § 127 Abs. 1 StPO ist, dass der Verdächtige auf frischer Tat betroffen oder verfolgt ist.
Definition: Auf frischer Tat betroffen ist, wer bei Tatbegehung bzw. unmittelbar danach am Tatort bzw. in dessen unmittelbarer Nähe gestellt wird.
Definition: Eine Verfolgung auf frischer Tat liegt vor, wenn sich der Täter vom Tatort entfernt hat, jedoch sichere Anhaltspunkte (z.B. Tatspuren) auf ihn als Täter hinweisen und dementsprechend seine Verfolgung aufgenommen wird.
Wann eine „Tat“ im Sinne des § 127 Abs. 1 StPO vorliegt, ist Merkmal eines umfangreichen Meinungsstreits und wird sogleich noch ausführlich dargestellt.
b. Tauglicher Festnahmegrund
Ein tauglicher Festnahmegrund im Sinne des § 127 Abs. 1 StPO liegt vor, wenn bezüglich des Festgenommenen ein Fluchtverdacht besteht oder seine Identität nicht anders als durch die Festnahme feststellbar ist.
Für einen Fluchtverdacht genügt, dass anhand aller erkennbaren äußeren Umstände die Annahme gerechtfertigt ist, der Betroffene werde sich der Verantwortung durch die Flucht entziehen, wenn er nicht alsbald festgenommen wird.
Die Festnahme zur Feststellung der Identität ist zulässig, wenn der Betroffene nicht ohne Vernehmung oder Nachforschungen identifiziert werden kann, weil er Angaben zu seiner Person verweigert oder sich nicht ausweisen kann und daher die Feststellung an Ort und Stelle nicht möglich ist. Beachte hierbei jedoch § 127 Abs. 1 S. 2 StGB!
2. Festnahmehandlung
Der Festnehmende muss durch sein Handeln in die Fortbewegungs- bzw. Willensfreiheit des Verdächtigen eingreifen. Die Handlung muss dem Zweck dienen eine Flucht des Betroffenen zu verhindern oder seine Identifizierung zu ermöglichen.
Zudem muss die Handlung im Rahmen des Erforderlichen liegen. Die objektive Erforderlichkeit bestimmt sich aus der Sicht eines objektiven Dritten zum Zeitpunkt der Tatbegehung. Sie liegt vor, wenn die Handlung für das Erreichen des Festnahmezwecks geeignet ist und der Täter bei Vorliegen mehrerer gleich wirksamer Mittel das mildeste Mittel auswählt.
Schließlich darf die Festnahmehandlung nicht außer Verhältnis zum Festnahmezweck steht. Die Verhältnismäßigkeit bestimmt sich nach dem sozialethischen Werten der Gesamtrechtsordnung.
Die Rechtsprechung sieht auch leichte Körperverletzungen als gerechtfertigt an, sofern dies nicht unverhältnismäßig ist [BGH, Urt. v. 10.2.2000 – 4 StR 558/99].
3. Subjektives Rechtfertigungselement
Schließlich ist nach vorzugswürdiger Ansicht auch ein subjektives Rechtfertigungselement zu fordern. Der Festnehmende muss also in Kenntnis der Umstände und in Festnahmeabsicht handeln.
III. Der Streit um die „Tat“ iSd. § 127 Abs. 1 StPO
Bei dem Merkmal der „frischen Tat“ wird darum gestritten, ob dies eine tatsächlich begangene Tat voraussetzt, oder ob dringender Tatverdacht genügt.
Definition: Von dringendem Tatverdacht spricht man, wenn die große Wahrscheinlichkeit besteht, dass der Verdächtige Täter einer Straftat ist.
1. Dringender Tatverdacht
Die Befürworter des dringenden Tatverdachts führen zunächst als Argument an, Absatz 1 des § 127 StPO habe prozessualen Charakter. Und prozessuale Maßnahmen würden nun mal an dringenden Tatverdacht anknüpfen. Zudem wird der Schutz des Festnehmenden als Argument angebracht, der sich ansonsten strafbar machen würde, wenn keine tatsächliche Tat vorläge. Schließlich kann doch ein Privatmann nicht schlechter stehen als die Ermittlungsbehörden.
2. Tatsächlich begangene Tat
Die Befürworter der tatsächlich begangenen Tat berufen sich vor allem auf Absatz 2 des § 127 StPO. Dieser lässt für das Festnahmerecht von Beamten die Voraussetzungen des Haftbefehls genügen, verweist also auf die Untersuchungshaft. Die Untersuchungshaft ist in § 112 StPO geregelt. Danach genügt dringender Tatverdacht. Aus dieser Regelung in Abs. 2 wird der Rückschluss gezogen, dass also für alle, die nicht unter Abs. 2 fallen (und damit alle „Otto-Normalbürger“) eine tatsächlich begangene Tat vorliegen muss. Der dringende Tatverdacht ist sozusagen für Vollzugsbeamte reserviert.
Zudem wird als weiteres Argument angeführt, auch die anderen Rechtfertigungsgründe würden eine objektiv vorliegende Rechtfertigungslage (etwa ein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff bei § 32 StGB) voraussetzen. Für die Rechtfertigung nach § 127 Abs. 1 StPO kann insoweit nichts anderes gelten.
3. Stellungnahme
Letztlich sind im Rahmen dieses Meinungsstreits wohl beide Ansichten vertretbar. So oder so wird der Festnehmende nicht wegen einer vollendeten Vorsatztat bestraft werden. Dies zeigt sich auch an folgendem Beispiel:
Beispiel: A sieht aus seinem Fenster auf die Straße. Plötzlich sieht er den B die Straße entlang rennen, und die ältere Frau F schreit „haltet den Dieb“. A stürmt nach draußen, holt B ein, und wirft ihn zu Boden. Dann stellt sich jedoch heraus, dass die F nicht den B meinte, sondern den C, der in die andere Richtung gelaufen war. B war lediglich gerannt, um seinen wegfahrenden Bus noch zu erwischen. Hat sich A nach § 239 StGB strafbar gemacht?
Nach Ansicht 1, die einen dringenden Tatverdacht genügen lässt, wäre A hier über § 127 Abs. 1 StPO gerechtfertigt.
Nach Ansicht 2, die eine tatsächlich begangene Tat fordert, hätte A objektiv rechtswidrig gehandelt. Jedoch unterlag er einem Erlaubnistatbestandsirrtum: er hat sich eine Lage vorgestellt (Festnahmelage), die, läge sie tatsächlich vor, seine Tat nach § 127 Abs. 2StPO rechtfertigen würde. Nach vorzugswürdiger rechtsfolgenverweisender, eingeschränkter Schuldtheorie wäre A analog zu § 16 StGB nicht zu bestrafen.
IV. Vorläufige Festnahme nach § 127 Abs. 2 StPO
§ 127 Abs. 2 StGB besagt:
Die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes sind bei Gefahr im Verzug auch dann zur vorläufigen Festnahme befugt, wenn die Voraussetzungen eines Haftbefehls oder eines Unterbringungsbefehls vorliegen.
Nach § 127 Abs. 2 StPO sind Polizei und Staatsanwaltschaft zur vorläufigen Festnahme berechtigt, wenn die materiellen Voraussetzungen eines Haftbefehls vorliegen.
1. Schema: § 127 Abs. 2 StPO
2. Voraussetzungen des § 127 Abs. 2 StPO
a) Befugnis
Befugnis zur Festnahme gemäß § 127 Abs. 2 StPO hat lediglich die Staatsanwaltschaft und die Polizei jedoch nicht die Privatperson.
b) Festnahmelage
Die Festnahmelage nach § 127 Abs. 2 StPO erfordert das Vorliegen der Voraussetzungen eines Haftbefehls gemäß § 112 StPO oder eines Unterbringungsbefehls nach § 126a StPO und das Vorliegen eines Festnahmegrundes, mithin Gefahr im Verzug.
Definition: Gefahr im Verzug ist gegeben wenn der vorherige Erlass des notwendigen Haft- oder Unterbringungsbefehls (§§ 112, 126a StPO) die Festnahme gefährden würde, da sofortiges Handeln erforderlich ist.
c) Festnahmehandlung
Auch hier sind Festnahmehandlungen und damit zusammenhängende Beeinträchtigungen gedeckt, wobei wiederum dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen ist.
d) Festnahmewille
Der Täter muss die Festnahmelage kennen und wissen, dass eine Handlung der Festnahme dient und mit Festnahmewillen handeln.
e) Vorführung
Der vorläufig Festgenommene ist unverzüglich spätestens jedoch am Tag nach seiner Festnahme dem Haftrichter vorzuführen. Der Haftrichter entscheidet, ob der Festgenommene freigelassen oder in Untersuchungshaft genommen wird.
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