I. Die Ausfertigung von Gesetzen durch den Bundespräsidenten
Gemäß Art. 82 I 1 GG werden die nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommenen Gesetze vom Bundespräsidenten nach Gegenzeichnung ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt veröffentlicht. Dies stellt im Regelfall kein Problem dar. Fraglich ist jedoch, was geschieht, wenn der Bundespräsident der Ansicht ist, dass das Gesetz verfassungswidrig ist und sich weigert, es auszufertigen.
II. Das formelle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten
Fraglich ist zuerst, ob dem Bundespräsidenten ein formelles Prüfungsrecht zusteht. Der Wortlaut des Art. 82 I 1 GG sagt aus, dass nur „nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommene[n] Gesetze“ gegengezeichnet und ausgefertigt werden. Er weist damit eine Parallele zum Wortlaut des Art. 78 GG auf, wo auch vom Zustandekommen eines Gesetzes die Rede ist.
Durch diesen Artikel wird auch ein Teil des Gesetzgebungsverfahrens abgeschlossen, nämlich das Hauptverfahren nach Art. 77 GG. Hieraus kann gefolgert werden, dass dem Bundespräsidenten in jedem Fall ein formelles Prüfungsrecht zusteht. Dieses bezieht sich auch auf die Gesetzgebungskompetenz (Art. 70 ff.) und das Einleitungsverfahren (Art. 76 ff.). Teilweise wird sogar eine Prüfungspflicht des Bundespräsidenten angenommen.
III. Das politische Prüfungsrecht des Bundespräsidenten
Es herrscht Einigkeit, dass dem Bundespräsidenten jedoch kein politisches Prüfungsrecht zusteht. Hiermit würde er in unzulässiger Weise in die politische Staatsleitung eingreifen.
IV. Das materielle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten
Noch interessanter ist aber die Frage, ob dem Bundespräsidenten auch ein materielles Prüfungsrecht zusteht. Ihre Beantwortung ergibt sich nicht eindeutig aus dem Grundgesetz.
1. Argumente gegen ein materielles Prüfungsrecht
Es könnten Argumente dafür sprechen, dass dem Bundespräsidenten kein materielles Prüfungsrecht zustehen sollte.
- In diesem Zusammenhang wird der Standpunkt erwähnt, dass es letztendlich nur in der Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts liegen soll, über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, etwa im Zuge einer abstrakten Normenkontrolle, zu entscheiden.
- Teilweise wird auch ausgeführt, dass der Bundespräsident im Vergleich zum Reichspräsidenten in der Weimarer Republik eine wesentlich schwächere Rolle einnehme. Danach würde man ihm mit einem materiellen Prüfungsrecht einen zu großen Handlungsspielraum einräumen.
- Außerdem könnte, in Anlehnung an die Argumentation zur formellen Verfassungsmäßigkeit, behauptet werden, dass die Ähnlichkeit des Art. 82 I 1 GG zu Art. 78 GG nahelege, dass mit dem Ausdruck „nach den Vorschriften dieses Grundgesetzes zustande gekommene[n] Gesetze“ nur formelle Vorschriften gemeint seien, weil in Art. 78 GG nur Verfahrensvorschriften angesprochen werden.
2. Argumente für ein materielles Prüfungsrecht
Nach einer anderen Ansicht steht dem Bundespräsidenten ein materielles Prüfungsrecht zu, wobei er die Ausfertigung eines Gesetzes jedoch nur verweigern kann, wenn dieses evident verfassungswidrig ist.
Hierzu werden folgende Punkte angeführt:
- Ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten verletzt nicht das Entscheidungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts. Gemäß Art. 20 III GG müssen alle drei Gewalten die verfassungsmäßige Ordnung von vornherein schützen. Das Bundeverfassungsgericht kann dabei immer noch rückwirkend korrigierend eingreifen, wobei es nur auf Antrag tätig wird.
- Der Versuch, Antworten hinsichtlich eines materiellen Prüfungsrechts des Bundespräsidenten aus einem Vergleich mit seiner Stellung zu derjenigen des Reichspräsidenten herzuleiten, ist nicht zielführend. Ein etwaiges materielles Prüfungsrecht muss stattdessen aus dem Grundgesetz selbst hergeleitet werden.
- 82 I 1 GG sagt aus, dass nach den Vorschriften des Grundgesetzes zustande gekommene Gesetze ausgefertigt und verkündet werden. Grundsätzlich können damit auch materielle Vorschriften gemeint sein, denn die „Vorschriften des Grundgesetzes“ erschöpfen sich nicht in formellen, sondern beinhalten auch materielle Rechtsnormen.
- Der Sinn und Zweck des Art. 82 GG ist der Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens. Damit kommt zum Ausdruck, dass der Bundestag das Gesetz offensichtlich für mit dem Grundgesetz vereinbar hält. Wenn der Bundespräsident es für verfassungswidrig hält, steht also Ansicht gegen Ansicht. In diesem Fall ist die unmittelbar legitimierte Legislative eigentlich für die Frage verantwortlich, ob ein Gesetz verfassungsgemäß ist oder nicht. Der Bundespräsident muss ihre Einschätzung dabei grundsätzlich respektieren. Nur wenn der Verfassungsverstoß evident ist, kann es dem Bundespräsidenten nicht zugemutet werden, das Gesetz auszufertigen, da nach Art. 20 III GG alle drei Gewalten, und somit auch der Bundespräsident als Teil der Exekutive, an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden sind.
3. Entscheidung
Die genannten Argumente, die gegen ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten sprechen, können im Ergebnis alle widerlegt werden. Dem Bundespräsidenten ist damit ein materielles Prüfungsrecht zuzugestehen, wobei er die Unterzeichnung eines Gesetzes jedoch nur verweigern darf, wenn es evident verfassungswidrig ist.
Quellen
- Degenhart, StaatsR I, § 10 II 1 Rn. 785.
- Nolte/Tams: JuS 2006, 1088 (1088).