Der Jungbullenfall (BGHZ 55, 176)

Der Jungbullenfall (BGHZ 55, 176)

Ein absoluter Prüfungsklassiker im Jurastudium und ersten Staatsexamen ist der sog. “Jungbullenfall” (BGHZ 55, 176). Der Fall verknüpft sachen- und bereicherungsrechtliche Probleme und weist daher besondere Schwierigkeit auf. Nachfolgend wird er kurz und prägnant aufbereitet dargestellt.
Jungbullenfall
Lecturio Redaktion

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29.01.2024

·

Inhalt

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Sachverhalt

Ein Dieb (D) stiehlt einem Landwirt (L) zwei Jungbullen und verkauft sie dem nichtsahnenden Metzger (M) für 2000 €. M verarbeitet die Jungbullen umgehend in seiner Fleischfabrik zu Wurst. Als L die ganze Sache mitbekommt, wendet er sich an M und verlangt Wertersatz i.H.v. 2000 € für die beiden Jungbullen. M aber weigert sich und beruft sich auf seine Gutgläubigkeit.

Kann L von M die Zahlung des Wertersatzes verlangen?

Falllösung

Man geht nach der üblichen Vorgehensweise voran. Zuerst schaut man, ob vertragliche Ansprüche bestehen, sodann schaut man nach quasivertraglichen Ansprüchen. Sofern diese beiden Prüfungspunkte fertig sind, geht man über in die dinglichen, deiktischen und bereicherungsrechtlichen Ansprüche.

Vertragliche und quasivertragliche Ansprüche bestehen zwischen L und M offenkundig nicht.

I. Anspruch aus §§ 989, 990 BGB

L könnte gegen M einen Anspruch auf Herausgabe von 2000 € gem. §§ 989, 990 BGB haben.

Dazu müsste zwischen L und M ein Eigentümer–Besitzer-Verhältnis (EBV) bestanden haben. Dies ist der Fall, wenn L Eigentümer und M Besitzer ohne Recht zum Besitz im Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses war.

1. Eigentümer

Hinweis: Wichtig ist hier, dass die chronologische Eigentumsprüfung eingehalten wird, um den Überblick nicht zu verlieren. Man beginnt also mit der Person, die laut Sachverhalt ursprünglich das Eigentum hatte. Dies bietet sich immer dann an, wenn größere Probleme in dem Eigentumserwerb bestehen.

a. Ursprünglicher Eigentümer

Ursprünglich war L der Eigentümer der Bullen. Das Eigentum hat er auch durch den Diebstahl von D nicht verloren, da die gem. § 929 S. 1 BGB erforderliche Einigung zur Eigentumsübertragung fehlt.

b. Gutgläubiger Erwerb des M durch D

Fraglich ist jedoch, ob er das Eigentum durch einen – gutgläubigen – Erwerb des M gemäß §§ 929 S. 1, 932 BGB verloren hat.

Einigung und Übergabe der Sachen (vgl. § 90a BGB) haben zwischen D und M stattgefunden, § 929 S.1 BGB. Die Einigung wirkte auch fort.

D hatte jedoch kein Eigentum (s.o.) und auch keine Verfügungsberechtigung, folglich kommt nur ein – gutgläubiger – Erwerb vom Nichtberechtigten in Betracht.

Merke: Die Voraussetzungen eines gutgläubigen Erwerbs gemäß §§ 929 S.1, 932 BGB sind folgende:

Es liegt ein Verkehrsgeschäft vor, eine Besitzübergabe und M ist gutgläubig i.S.v. § 932 Abs. 2 BGB. Allerdings kann gem. § 935 Abs. 1 S. 1 BGB der gutgläubige Erwerb ausscheiden, wenn es sich um eine abhandengekommene Sache handelt.

  1. Rechtsgeschäft i.S.e. Verkehrsgeschäft
  2. Rechtsscheintatbestand i.S.e. Besitzübergabe
  3. Gutgläubigkeit des Dritten, § 932 Abs. 2 BGB
  4. kein Abhandenkommen, § 935 Abs. 1 S.1 BGB

Definition: Ein Abhandenkommen liegt vor, wenn der Eigentümer den unmittelbaren Besitz unfreiwillig verloren hat.

L wurden die Bullen von D gestohlen. Er hat seinen Besitz unfreiwillig verloren. Mithin konnte M das Eigentum an den Bullen nicht gutgläubig erwerben.

c. Erwerb durch Verarbeitung

M könnte das Eigentum durch Verarbeitung der Bullen gemäß § 950 Abs. 1 BGB erlangt haben. Durch die Verarbeitung oder Umbildung müsste eine neue bewegliche Sache hergestellt worden sein. Ursprünglich hatte L zwei Jungbullen. Aus diesen wurde jedoch Wurst produziert, damit eine neue bewegliche Sache hergestellt. Eine Verarbeitung liegt vor. Mithin hat M die Bullen verarbeitet und dadurch grundsätzlich das Eigentum an der Wurst erworben.

Wichtig: Allerdings handelt es sich bei der Verarbeitung gerade um das schädigende Ereignis. In diesem Zeitpunkt war L noch Eigentümer! 

2. Besitzer

M hatte die tatsächliche Sachherrschaft über die Jungbullen und war damit unmittelbarer Besitzer gem. § 854 BGB.

3. kein Recht zum Besitz

M dürfte zum Zeitpunkt der Verletzungshandlung kein Recht zum Besitz gehabt haben. Der zwischen M und D geschlossene Kaufvertrag wirkt allerdings nur relativ, das heißt zwischen den Parteien und entfaltet gerade keine Rechtswirkung im Verhältnis zwischen L und M. M hatte folglich kein Besitzrecht.

4. Bösgläubigkeit des M bzw. Rechtshängigkeit

Gemäß § 990 Abs. 1 BGB müsste M jedoch auch bösgläubig gehandelt haben oder nach §§ 989 BGB, §§ 253, 260 ZPO bereits verklagt worden sein. Beides ist nicht der Fall.

5. Ergebnis

L hat gegen M keinen Anspruch auf Schadensersatz gem. §§ 989, 990 BGB.

II. Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB

Da M die Jungbullen gutgläubig und unverklagt erlangt hat, ist die Anwendung des § 823 BGB auf Grund der Sperrwirkung in § 993 Abs. 1 HS 2 BGB nicht möglich!

III. Anspruch aus §§ 951, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB

Allerdings könnte L ein Anspruch gem. §§ 951, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB gegen M i.H.v. 2000 € zustehen.

1. Anwendbarkeit

Bereicherungsansprüche werden durch die Regelungen der §§ 987 ff. BGB nach ganz h.M. nicht ausgeschlossen, wenn die Sache durch den unberechtigten Besitzer verbraucht oder weiterveräußert bzw. verarbeitet wurde. In diesen Fällen besteht auf Seiten des unrechtmäßigen Besitzers eine Vermögensmehrung (also Bereicherung), die gem. §§ 812 ff. BGB herausgegeben werden kann. Genauer heißt es :

Ein Anspruch aus § 951 I 1 BGB wird nicht durch die Sonderregelung der §§ 987 ff. ausgeschlossen. Zwar war bis zur Verarbeitung durch den Beklagten der Kläger Eigentümer und der Beklagte (nichtberechtigter) Besitzer der Tiere. Die Verarbeitung durch den Beklagten hatte zur Folge, daß dieser die Tiere nicht mehr herausgeben konnte. Hierfür würde der Beklagte dem Kläger auf Schadensersatz nur unter den Voraussetzungen der §§ 989, 990 (Rechtshängigkeit, Bösgläubigkeit) haften (§ 993 Abs. 1 HS 2), die hier unstreitig nicht gegeben sind. Das steht jedoch einem Anspruch aus § 951 Abs. 1 S. 1 BGB nicht entgegen, der kein Schadensersatzanspruch, sondern ein Bereicherungsanspruch ist.

2. Voraussetzung des § 951 BGB

Nach § 951 BGB steht L ein Ausgleich für den Rechtsverlust aus den §§ 946 – 950 BGB zu. Ein Rechtsverlust durch § 950 BGB wurde bereits bejaht (s.o.).

Hinweis: Der Ausgleich erfolgt gem. § 951 Abs. 1 S. 1 BGB nach denVorschriften der ungerechtfertigten Bereicherung. Nach ganz herrschender Meinung handelt es sich hierbei um eine Rechtsgrundverweisung, was zur Folge hat, dass neben den Voraussetzungen des § 951 BGB auch alle Anspruchsvoraussetzungen des § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB erfüllt sein müssen.

3. Voraussetzungen des § 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB

a. Etwas erlangt

Dazu müsste M etwas erlangt haben. M hat das Eigentum an der Wurst erlangt.

b. In sonstiger Weise

M müsste dieses auch in sonstiger Weise erlangt haben.

Grundsätzlich besteht jedoch ein Vorrang der Leistungskondiktion.

Definition: Eine Leistung ist die bewusste, zweckgerichtete Mehrung fremden Vermögens.

Es gilt aber zu beachten, dass M nur den Besitz an den Bullen durch eine Leistung des D erlangt hat, das Eigentum jedoch nicht. Dieses erhielt er erst durch die selbst durchgeführte Verarbeitung.

Im Verhältnis zwischen M und L geht es jedoch um das Eigentum und nicht um den Besitz. Demnach hat M das Eigentum in sonstiger Weise, also durch einen Eingriff in den Zuweisungsgehalt eines fremden Rechts, erlangt.

c. Ohne rechtlichen Grund

Außerdem ist noch fraglich, ob M das Eigentum tatsächlich ohne rechtlichen Grund erlangt hat, da zwischen D und ihm ja ein Kaufvertrag bestand. Diesem Vertrag wird jedoch bereits durch § 935 BGB die Wirkung gegenüber L entzogen. Auch die Vorschriften der §§ 946 ff. sind kein Rechtsgrund für eine Vermögensverschiebung.

Ferner ist § 950 BGB kein Rechtsgrund.

4. Ergebnis

L hat gegen M einen Anspruch auf Zahlung der 2000 € gem. §§ 951, 812 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 BGB.

Quellen

  • BGHZ 40, 272 ff.
  • BGHZ 55, 176 ff. = NJW 1971, 612 ff.
  • Eickelmann, Sarah: Anfängerhausarbeit – Zivilrecht: Grundstücksschenkung an einen Minderjährigen, JuS 2011, 997 ff.
  • Münchener Kommentar zum BGB, 6. Aufl., München 2013
  • Roth, Herbert: Das Eigentümer-Besitzer-Verhältnis, JuS 2003, 937 ff.
  • Staake, Marco: Gesetzliche Schuldverhältnisse, Heidelberg (u.a.) 2014

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Simon Veiser beschäftigt sich seit 2010 nicht nur theoretisch mit IT Service Management und ITIL, sondern auch als leidenschaftlicher Berater und Trainer. In unterschiedlichsten Projekten definierte, implementierte und optimierte er erfolgreiche IT Service Management Systeme. Dabei unterstützte er das organisatorische Change Management als zentralen Erfolgsfaktor in IT-Projekten. Simon Veiser ist ausgebildeter Trainer (CompTIA CTT+) und absolvierte die Zertifizierungen zum ITIL v3 Expert und ITIL 4 Managing Professional.

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Dr. Frank Stummer ist Gründer und CEO der Digital Forensics GmbH und seit vielen Jahren insbesondere im Bereich der forensischen Netzwerkverkehrsanalyse tätig. Er ist Mitgründer mehrerer Unternehmen im Hochtechnologiebereich, u.a. der ipoque GmbH und der Adyton Systems AG, die beide von einem Konzern akquiriert wurden, sowie der Rhebo GmbH, einem Unternehmen für IT-Sicherheit und Netzwerküberwachung im Bereich Industrie 4.0 und IoT. Zuvor arbeitete er als Unternehmensberater für internationale Großkonzerne. Frank Stummer studierte Betriebswirtschaft an der TU Bergakademie Freiberg und promovierte am Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe.

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