I. Allgemeines zu Art. 2 GG
Art. 2 GG:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Art. 2 GG teilt sich in vier Grundrechte auf:
- allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG
- allgemeines Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG
- Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
- Recht auf Freiheit, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG
Alle in Art. 2 GG verankerten Grundrechte, werden wie folgt geprüft:
Prüfungsschema, Art. 2 GG:
- I. Schutzbereich
- a) persönlicher Schutzbereich
- b) sachlicher Schutzbereich
- II. Eingriff
- Nach dem modernen Eingriffsbegriff liegt ein Eingriff vor, wenn das grundrechtlich geschützte Verhalten erschwert oder unmöglich gemacht wird.
- III. Rechtfertigung
Hinweis: Sollte es keine Besonderheiten zum Eingriff bei dem im Folgenden erläuterten Grundrecht geben wurde dieser nicht aufgeführt.
I. Die allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG
Absatz 1 des Art. 2 GG:
Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte Anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
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Der Allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG werden die Beteiligungsformen zugeordnet, welche nicht durch den Schutzbereich eines speziellen Freiheitsrechts erfasst werden. Folglich ist die allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) subsidiär (Auffanggrundrecht). Wird ein Lebensbereich durch ein spezielles Freiheitsrecht erfasst, so ist kein Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 GG erforderlich.
Tipp: Aufbautechnisch muss die allgemeine Handlungsfreiheit also am Ende der Prüfung der Freiheitsgrundrechte behandelt werden und kann dementsprechend kurz behandelt werden, wenn vorrangig einschlägige Grundrechte zu prüfen sind.
1. Schutzbereich
a) Persönlicher Schutzbereich
Geschützt ist „jeder“, d. h. jeder Mensch. Hinzu kommen nach den Kriterien des Art. 19 Abs. 3 GG die juristischen Personen.
Das Grundrecht ist nicht auf deutsche Staatsangehörige beschränkt. Aus diesem Grund spielt Art. 2 Abs. 1 GG eine wichtige Rolle, wenn ein ausländischer Staatsbürger Grundrechte geltend machen will: Ist ein spezielleres Grundrecht nicht einschlägig, weil es nur für Deutsche gilt – wie z. B. Art. 12 GG – so bleibt die Möglichkeit, sich auf Art. 2 Abs. 1 GG zu berufen.
Aus Gründen der Gleichbehandlung von In- und Ausländern sind jedoch dann im Rahmen der Rechtfertigungsvoraussetzungen die Maßstäbe des spezielleren Grundrechts anzuwenden. Am Beispiel des Art. 12 Abs. 1 GG bedeutet dies: auch im Rahmen des Art. 2 Abs. 1 GG ist dann die Dreistufentheorie anzuwenden.
b) Sachlicher Schutzbereich:
Der sachliche Schutzbereich umfasst den Schutz der Handlungen eines Jeden, unabhängig von der Auswirkung der Handlung auf dessen Persönlichkeitsentfaltung.
Dies ist jedoch nicht ganz unumstritten:
- Teilweise wird vertreten, die allgemeine Handlungsfreiheit schütze – ausweislich des Wortlautes – nur die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das individuelle Verhalten muss demnach eine gesteigerte, dem Schutz der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung haben, um unter Art. 2 Abs. 1 GG zu fallen.
- Das BVerfG und mit ihm die wohl herrschende Meinung nimmt dagegen an, Art. 2 Abs. 1 GG schütze die allgemeine Handlungsfreiheit im umfassenden Sinne. Geschützt sei demnach nicht nur ein eingeschränkter Bereich der Persönlichkeitsentfaltung, sondern jede Form selbstbestimmten, menschlichen Handelns.
Darunter fallen nach der h. M. also auch scheinbar nutzlose Tätigkeiten wie beispielsweise Taubenfüttern [BVerfGE 54, 143/146] oder Pilzesammeln. Ein absoluter Klassiker zu diesem Meinungsstreit ist der „Reiter im Walde“-Fall [BVerfGE 80, 137 ff.].
Merke: Steht jedoch die Persönlichkeitsentfaltung im Vordergrund, so greift der Schutz des von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts speziell entwickelten allgemeinen Persönlichkeitsrechts (siehe II.) ein, das einen stärkeren Schutz vermittelt.
2. Eingriff
Hier wirkt sich der weite Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG aus: praktisch jedes staatliche Verhalten vom Verwaltungsakt bis zur Benutzungsordnung schränkt den Einzelnen darin ein, dass zu machen, was er möchte.
3. Rechtfertigung
a) Schranke
Die allgemeine Handlungsfreiheit reicht nur soweit ihre Ausübung nicht gegen die sogenannte Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG verstößt.
[…] Rechte anderer […] verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz […]
Die verfassungsmäßige Ordnung umfasst alle formellen und materiellen verfassungskonformen Rechtsnormen, ebenso wie höherrangiges Unionsrecht. Es handelt sich damit um einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Das Grundrecht kann daher grundsätzlich durch jede Rechtsvorschrift eingeschränkt werden, auch durch kommunales Satzungsrecht und durch Richterrecht.
Die Schranke der Rechte anderer ist Ausdruck des Grundsatzes „neminem laedere“. Die Freiheit des eigenen Handelns findet ihre Grenze in der Schädigung Anderer. Unter die Rechte Anderer fallen neben den Grundrechten auch alle anderen Rechtsnormen des öffentlichen und privaten Rechts, die ein subjektives Interesse gewähren.
Die Definition des Sittengesetzes ist unklar, jedoch ist es in der Klausur kaum von Bedeutung, da das Sittengesetz durch die verfassungsmäßige Ordnung konkretisiert wird.
b) Verhältnismäßigkeit
Schließlich muss der Eingriff dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen. Dabei sind die beeinträchtigte Handlungsfreiheit und das geschützte Rechtsgut gegeneinander abzuwägen. Handelt es sich bei dem geschützten Recht um das Grundrecht eines Dritten, so sind dessen Grundrecht und die allgemeine Handlungsfreiheit im Wege der praktischen Konkordanz in einen gerechten Ausgleich zu bringen.
Das Zitiergebot des Art. 19 I GG findet keine Anwendung.
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III. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG
Da das Grundrecht des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) im Wege der Rechtsfortbildung durch das BVerfG entwickelt wurde fehlt es an einem spezifischen Normtext.
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1. Schutzbereich
a) persönlicher Schutzbereich
Das Grundrecht des allgemeinen Persönlichkeitsrechts schützt in persönlicher Hinsicht ohne Einschränkung natürlicher Personen. Ob sich auch juristische Personen auf diese Grundrechte berufen können, wird vom BVerfG grundsätzlich nur in Ausnahmefällen bejaht.
b) sachlicher Schutzbereich
In sachlicher Hinsicht umfasst das Allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Grundfunktion als subjektives Abwehrrecht insbesondere den Kernbereich privater Lebensgestaltung. Somit schützt es Elemente der Persönlichkeit, die nicht schon Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantie des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen.
- Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt „die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen“ [BVerfGE 54, 148, 153].
- Es sichert „jedem einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann“ [BVerfGE 79, 256, 268].
Der sachliche Schutzbereich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist relativ offen, weswegen neue Gefährdungen der Persönlichkeit, die derzeit noch nicht erkennbar sind, hier durch neue Fallgruppen berücksichtigt werden können.
Das Bundesverfassungsgericht hat mehrere Fallgruppen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelt: Recht am eigenen Bild und Wort, Schutz der persönlichen Ehre, informationelles Selbstbestimmung, usw.
- Recht am eigenen Bild: Recht jedes Einzelnen zu entscheiden, was mit Fotos oder anderen Formen von Abbildungen der eigenen Person in der Öffentlichkeit passiert.
- Recht am eigenen Wort: Schützt das Recht eines Jeden, Dinge spontan zu äußern, ohne damit rechnen zu müssen, dass diese Äußerungen an die Öffentlichkeit gelangen.
- Recht auf Informationelle Selbstbestimmung: Das Grundrecht gewährleistet dem einzelnen die Befugnis, „selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen” (BVerfGE 65, 1, 43).
2. Rechtfertigung
Das BVerfG wendet auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht die Schrankentrias des Art. 2 Abs. GG an. Dabei ist insbesondere zu beachten, in welche Sphäre die staatliche Maßnahme eingegriffen hat.
Intimsphäre: Diese Sphäre umfasst den Schutz der inneren Gedanken- und Gefühlswelt sowie den Schutz des Sexualbereichs. Es ist ein unantastbaren Bereich der privaten Lebensgestaltung, der dem staatlichen Eingriff verschlossen ist.
Sozial- und Privatsphäre: Dies umfasst den Schutz des Privatlebens sowie des Lebens im häuslichen Bereich und im Familienkreis. Im Bereich der Privatsphäre sind Eingriffe nur unter strikter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig.
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III. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
Absatz 2 Satz 1 des Art. 2 GG:
Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. […] In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
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1. Schutzbereich
a) persönlicher Schutzbereich
In Frage kommen kommen nur natürliche Personen, da juristische Personen weder über ein Leben, noch einen Körper verfügen. Auch das ungeborene menschliche Leben im Mutterleib und „in vitro“ sind geschützt, wobei die Einzelheiten in der Literatur umstritten sind. Der Grundrechtsschutz endet mit dem Tod, als dessen sicheres Kriterium der irreversible Hirntod gilt.
b) sachlicher Schutzbereich
Das Grundrecht auf Leben schützt das körperliche Dasein, d. h. die biologisch-physische Existenz. Nicht geschützt ist jedoch die Verfügung über das eigene Leben (Selbstmord und Freitod).
Die körperliche Unversehrtheit schützt vor allen Einwirkungen, die die menschliche Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne beeinträchtigen.
Unterhalb dieser Schwelle wird das psychische Wohlbefinden nur geschützt, wenn die Einwirkung Folgen hat, die körperlichen Schmerzen nach Art und Intensität vergleichbar sind. Im Übrigen wird das bloße Wohlbefinden nicht geschützt.
2. Eingriff
Das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit werden durch konkrete Bestimmungen der öffentlichen Gewalt beeinträchtigt.
Beispiele: Finaler Rettungsschuss durch einen Polizeibeamten, Zwangskastration, Blutentnahmen, nicht aber ärztliche Eingriffe mit Einwilligung, im Entzug oder die Gefährdung des Lebens (Todesstrafen, polizeiliche Todesschüsse).
Ein Eingriff kann auch in der Gefährdung des Grundrechts liegen, wenn eine Verletzung des Lebens zu befürchten ist.
3. Rechtfertigung
Das Grundrecht steht unter allgemeinem Gesetzesvorbehalt, d. h. es kann gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden
Die sog. Eingriffsmaßnahmen bedürfen daher einer formell-gesetzlichen Grundlage.
Bei der materiellen Rechtsmäßigkeit des eingreifenden Gesetzes, muss das eingeschränkte Gesetz im Lichte des Grundrechts ausgelegt werden [BVerfGE 17, 108/117].
Die Verhältnismäßigkeit bedarf dabei einer strengen Kontrolle. Eine unbeschränkte Schranken-Schranke bildet das Verbot der Todesstrafe i. S. d. Art. 102 GG, Art. 104 Abs. 1 S. 2 GG. Diese haben dabei nicht an der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG Anteil, wobei die Verfassung übereinstimmend mit einem hinreichenden Gesetz geändert werden kann.
Der finale Rettungsschuss nach den Polizeigesetzen, der das Leben oder die körperliche Unversehrtheit Dritter bedroht ist zulässig.
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IV. Die Freiheit der Person, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG
Absatz 2 Satz 1 des Art. 2 GG:
Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
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1. Schutzbereich
In persönlicher Hinsicht schützt Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG natürliche Personen.
Der sachliche Schutzbereich umfasst die körperliche Bewegungsfreiheit. Darunter versteht man die Freiheit, einen Ort aufzusuchen und/oder sich dort aufzuhalten. Allerdings muss das Betreten des Ortes rechtlich (und auch tatsächlich) möglich sein.
Umstritten ist, ob die negative Bewegungsfreiheit geschützt ist. Darunter zu verstehen ist ein staatliches Gebot, einen bestimmten Ort aufzusuchen.
- Einer Meinung nach umfasst Art. 2 Abs. 2 GG auch die negative Bewegungsfreiheit. Hierfür spreche, dass das Gebot, sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort aufzuhalten, auch als ein Verbot, sich an allen anderen Orten zu dieser Zeit nicht aufzuhalten, gesehen werden könne.
- Nach herrschender Meinung ist eine Berufung auf Art. 2 Abs. 2 GG i. S. d. negativen Bewegungsfreiheit ausgeschlossen. Hierfür spricht, dass die körperliche Bewegungsfreiheit des Einzelnen erhalten bleibt, auch wenn sie mit Sanktionen belegt sein mag. Etwas anderes könne nur gelten, wenn staatlicher unmittelbarer Zwang gebraucht wird, um jemanden zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort zu bringen.
2. Rechtfertigung
Die allgemeine Schranke des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG wird durch die detaillierten Anforderungen des Art. 104 GG für den Fall der Freiheitsentziehung überlagert.
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