Tipp: allgemeine Ausführungen zu § 823 BGB (Recht der unerlaubten Handlung) befinden sich in diesem Artikel.
I. Problemaufriss
Herausforderungsfälle sind Fälle, in denen das Opfer nicht direkt vom Schädiger verletzt wird. Vielmehr beruht die Verletzung auf einen Willensentschluss des Verletzten selbst oder eines Dritten. Es liegt also eine Selbstschädigung vor.
Definition – Herausforderungsfälle: Jemand, der durch vorwerfbares Verhalten, einen anderen zu selbstgefährdeten Verhalten herausfordert, ist diesem dann, sofern der Willensentschluss auf einem berechtigten Motiv beruht, zum Ersatz verpflichtet, der aus dem gesteigerten Risiko entstanden ist.
Unter welchen Voraussetzungen (BGH, Urteil v. 12.03.1996, Az. VI ZR 12/95) eine Haftung vorliegen kann und an welchen Prüfungspunkt dies zu thematisiert ist, wird nachfolgend erklärt.
II. Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB
Nach § 823 Abs. 1 BGB ist zum Schadensersatz verpflichtet,
(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt […]
Die Voraussetzungen des § 823 Abs. 1 BGB sind dabei – Prüfungsschema:
- Verletzung eines geschützten Rechtsguts
- Verletzungshandlung (oder Unterlassen)
- Haftungsbegründende Kausalität zwischen Handlung und Rechtsgutverletzung
- Rechtswidrigkeit der Handlung
- Verschulden
- Entstandener Schaden
- Haftungsausfüllende Kausalität zwischen Rechtsgutverletzung und Schaden
Liegen die Voraussetzungen vor, so begründet § 823 Abs. 1 BGB ein gesetzliches Schuldverhältnis, im Rahmen dessen der Schädiger zum Ersatz des entstandenen Schadens nach Maßgabe der §§ 249 ff. BGB verpflichtet ist.
III. Die haftungsbegründende Kausalität als Anknüpfungspunkt für die Herausforderungsfälle
Die haftungsbegründende Kausalität ist der Kausalzusammenhang zwischen dem eingetretenen Verletzungserfolg an dem betroffenen Rechtsgut und dem Verletzungshandeln (oder Unterlassen) des Schädigers. Die haftungsbegründende Kausalität ist dabei in drei „Schritten“ zu prüfen.
1) Die Äquivalenztheorie
Die Äquivalenztheorie findet auch im Strafrecht Anwendung, dort meist unter dem Begriff „conditio-sine-qua-non-Formel“.
Definition: Nach der Äquivalenztheorie ist kausal für einen Erfolg jedes Ereignis, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele.
2) Die Adäquanztheorie
Die Äquivalenztheorie ist denkbar weit gefasst und bedarf deshalb einer Einschränkung. Diese geschieht im Deliktsrecht regelmäßig durch die Adäquanztheorie.
Definition: Demnach ist eine Handlung nur dann kausal, wenn sie geeignet ist, den Erfolg unter gewöhnlichen Umständen herbeizuführen.
Ausgeschlossen werden durch die Adäquanztheorie also gänzlich atypische, ungewöhnliche Kausalverläufe.
Die Heranziehung der Adäquanztheorie im Rahmen der haftungsbegründenden Kausalität entspricht der wohl h.M. (und insbesondere der BGH-Rspr). Eine Mindermeinung wendet diese jedoch erst im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität an und lässt bei der haftungsbegründenden Kausalität die Äquivalenztheorie genügen.
3) Der Schutzzweck der Norm
Da auch die Adäquanztheorie nicht in allen Fällen zu gerechten Ergebnissen führt, ergänzt die h.M. die Kausalitätsprüfung um die Lehre vom Schutzzweck der Norm und nimmt dadurch eine weitere Einschränkung vor. Dies geschieht in der Regel in Fällen der mittelbaren Verletzung eines Rechtsguts.
Definition: Nach der Lehre vom Schutzzweck der Norm erfolgt eine Zurechnung des Verletzungserfolges nur dann, wenn der konkrete Erfolg gerade unter den Schutzzweck der betroffenen Norm fällt, wenn also die Norm gerade den Geschädigten vor eben solch einer Verletzung schützen will.
Für den § 823 Abs. 1 BGB bedeutet dies, dass die Norm nur vor solchen Verletzungen schützen will, die durch einen Eingriff einer anderen Person erfolgen. Nicht vom Schutzzweck des § 823 Abs. 1 BGB werden hingegen solche Verletzungserfolge erfasst, die sich bloß als Realisierung eines allgemeinen Lebensrisikos darstellen.
IV. Die Problematik der Herausforderungsfälle anhand eines Beispiels
Im Prüfungspunkt „Schutzzweck der Norm“ sind die sog. Herausforderungsfälle angesiedelt. Bei diesen Fällen besteht die Besonderheit, dass der Verletzungserfolg auf einer Willensentscheidung des Geschädigten selbst oder eines Dritten beruht.
Beispiel: Der Polizist P beobachtet, wie der S am Bahnhof ein Fahrrad stehlen will. Als er ihn stellt, flüchtet der S. P rennt ihm hinterher. Als S über einen kleinen Zaun klettert und P ihm folgen will, stürzt P beim Kletterversuch und bricht sich ein Bein.
Kann P von S Ersatz der Behandlungskosten sowie Schmerzensgeld nach § 823 I BGB verlangen?
Grundsätzlich hat das Verhalten des S (Weglaufen) den Verletzungserfolg bei P (Sturz bei der Verfolgung) äquivalent und adäquat kausal herbeigeführt. Problematisch ist in solchen Fällen jedoch der Schutzzweck der Norm. Denn § 823 Abs. 1 BGB will vor Fremdschädigung schützen, nicht jedoch vor Selbstschädigung.
Es stellt sich demnach die Frage, inwieweit dem Schädiger noch ein Erfolg, bei verhaltensbezogener Wertung, zuzurechnen ist, der auf einer eigenen Entscheidung des Geschädigten oder aber auch auf einem Dazwischentreten eines Dritten beruht.
V. Die Rechtsprechung des BGH als Lösung
Nach der Rechtsprechung des BGH wird der eingetretene Erfolg nur dann vom Schutzzweck der Norm umfasst, wenn:
- durch die Verfolgung ein erhöhtes Risiko für die Rechtsgüter des Verfolgers geschaffen wurde und sich dieses herausforderungstypische Risiko auch im eingetreten Erfolg verwirklicht hat;
- der Verfolger sich durch das Verhalten des Verfolgten herausgefordert fühlte und dies auch durfte, seine Handlung also eine gewöhnliche Reaktion auf die Verfolgung darstellt;
- der Verfolgte subjektiv damit rechnen musste, verfolgt zu werden;
Liegen all diese Voraussetzungen vor, dann liegt der eingetretene Verletzungserfolg noch im Schutzzweck der Norm und die haftungsbegründende Kausalität ist damit gegeben. Fehlt es an den Voraussetzungen, so ist die Kausalität zu verneinen und ein Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB scheidet damit aus.
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