I. Aufbau
§ 239a StGB und § 239b StGB sind parallel zueinander aufgebaut. Beide setzen als erstes ein Entführen bzw. Sich bemächtigen voraus.
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Definition: Ein Entführen liegt vor, wenn das Opfer durch eine vom Täter vorgenommene oder veranlasste Ortsveränderung in eine hilflose Lage gebracht wird.
Definition: Ein Sich Bemächtigen ist die Begründung neuer oder der Missbrauch bereits bestehender Herrschaft über den Körper des Opfers (physisch).
Eine Ortsveränderung ist nicht erforderlich. Sich bemächtigen liegt bereits vor, wenn der Täter das Opfer mit einer Waffe bedroht.
Beide Normen unterscheiden sich in einem wichtigen Detail: Es handelt sich quasi um unvollkommen zweiaktige Delikte, es bedarf demnach einer Entführung oder eines Sich bemächtigen in der Aufführung und dazu abhängig vom Tatbestand ein weiteres – nicht notwendigerweise vollendetes Element. In § 239a StGB geht es um die Absicht (Alt. 1) zur Erpressung bzw. die (zumindest versuchte) Erpressung (Alt. 2); in § 239b StGB hingegen tritt an die Stelle der geplanten Erpressung die Absicht einer Nötigung (Alt. 1) bzw. die (zumindest versuchte) Nötigung (Alt. 2):
Faustformel: Bei § 239a StGB geht es um Geld, bei § 239b StGB um etwas Vermögensunabhängiges. Weil die Nötigung ein Minus zur Erpressung ist, ist § 239b StGB auch immer in § 239a StGB enthalten.
Beachte aber dabei, dass beide Akte vorhanden sein müssen und nicht in der gleichen tatsächlichen Handlung liegen dürfen! Mehr dazu sodann unter der Kernproblematik!
II. Tatbestandsalternativen
In der 1. Alternative (Entführungs- und Bemächtigungstatbestand) beider Tatbestände muss der Täter schon im Zeitpunkt der Entführung bzw. Bemächtigung mit Erpressungs- bzw. Nötigungsabsicht gehandelt haben. Die Tat ist dann mit der Entführung/Bemächtigung bereits vollendet, zur Erpressung muss es nicht mehr kommen.
In der 2. Alternative (Ausnutzungstatbestand) muss das Entführen bzw. Sich bemächtigen aus einem anderen Zweck erfolgt sein. Erst nach dieser Tathandlung bildet der Täter dann den Vorsatz, die geschaffene Lage des Opfers zur Erpressung bzw. Nötigung auszunutzen. Für die Vollendung der Tat muss die Erpressung bzw. Nötigung zumindest in das Versuchsstadium gekommen sein (bspw. Abschicken des Erpresserbriefes).
§ 239a Abs. 3 StGB enthält eine Erfolgsqualifikation im Sinne von § 18 StGB. Die Verwirklichung hiervon setzt voraus, dass der Täter wenigstens leichtfertig den Tod des Opfers verursacht, wobei sich in der Todesverursachung gerade das unmittelbar deliktspezifische Risiko realisieren muss.
Streitig sind Fälle, in denen das Opfer bei einer (polizeilichen oder eigenen) Befreiungsaktion irrtümlich erschossen wird: Die wohl herrschende Meinung sieht Befreiungsaktionen als ein typisches Risiko der beiden Delikte an. Ein Einflussnehmen Dritter ist Teil des typischen Gefahrzusammenhanges der Erfolgsqualifikation.
Da es bei § 239a StGB und § 239b StGB zu einer weit vorgelagerten Vollendungsstrafbarkeit kommt, das Opfer zum Zeitpunkt der Vollendung sogar noch in Gefahr ist, regelt § 239 Abs. 4 StGB die Möglichkeit eines Rücktritts vom vollendeten Delikt auch ohne freiwillige Aufgabe des Erpressungsziels. § 239a Abs. 4 StGB kann jedoch nur zu einer Strafmilderung gem. § 49 StGB führen.
§ 239a Abs. 2-4 StGB sind gem. § 239b Abs. 2 StGB entsprechend auf § 239b StGB anzuwenden.
III. Prüfungsschema
1. § 239a Alt. 1 StGB: Entführungs- und Bemächtigungsalternative
Prüfungsschema: § 239a Alt. 1 StGB
I. Objektiver Tatbestand
1. Tatobjekt: anderer Mensch
2. Tathandlung: Entführen oder Sich-Bemächtigen
II. Subjektiver Tatbestand
1. Vorsatz bzgl. Tatobjekt und Tathandlung
2. Erpressungsausnutzungsabsicht
2. § 239b Alt. 1 StGB: Entführungs- und Bemächtigungsalternative
Prüfungsschema: § 239b Alt. 1 StGB
I. Objektiver Tatbestand:
1. Tatobjekt: anderer Mensch
2. Tathandlung: Entführen oder Sich-Bemächtigen
II. Subjektiver Tatbestand:
1. Vorsatz
2. Nötigungsausnutzungsabsicht
3. § 239a Alt. 2 StGB: Ausnutzungsalternative
Prüfungsschema: § 239a Alt. 2 StGB
I. Objektiver Tatbestand:
1. Tatobjekt: anderer Mensch
2. Tathandlung: Entführen oder Sich-Bemächtigen
3. (Versuchte) Erpressung, § 253 StGB
4. Unter Ausnutzung der geschaffenen Lage
II. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
4. § 239b Alt. 2 StGB: Ausnutzungsalternative
Prüfungsschema: § 239b Alt. 2 StGB
I. Objektiver Tatbestand:
1. Tatobjekt: anderer Mensch
2. Tathandlung: Entführen oder Sich-Bemächtigen
3. (Versuchte) Nötigung, § 240 StGB
4. Unter Ausnutzung der geschaffenen Lage
II. Subjektiver Tatbestand: Vorsatz
IV. Sich-Bemächtigen im 2-Personen-Verhältnis
1. Problemkonstellation
Dies ist eins der am häufigsten vorkommenden Examensprobleme im Zusammenhang mit Raub und räuberischer Erpressung: Sind § 239a StGB und § 239b StGB auch dann anwendbar, wenn nur ein 2-Personen-Verhältnis vorliegt?
Beispiel: Täter T überfällt eine Bank und zwingt den Bankkaufmann mit vorgehaltener Waffe, ihm Bargeld auszuhändigen.
Hier liegt grundsätzlich eine räuberische Erpressung gem. §§ 253, 255 StGB vor. Die Strafandrohung liegt bei nicht unter einem Jahr. Nach wortgebundener Auslegung liegt aber auch ein § 239a StGB vor. Bei § 239a StGB hingegen liegt die Rechtsfolge bei nicht unter fünf Jahren. Konsequenz wäre, dass alle Fälle eines einfachen Raubes oder Erpressung von § 239a StGB verdrängt werden würde. §§ 249, 250 Abs. 1 StGB und §§ 253, 255, 250 Abs. 1 StGB und weitere Tatbestände (bspw. § 177 StGB) wären praktisch bedeutungslos.
2. Lösungsansätze
Deshalb vertritt ein Teil der Literatur eine Konkurrenzlösung. Wenn kein Raub, sondern eine Erpressung vorliegt, seien die milderen §§ 253, 255 StGB vorrangig.
Die Rechtsprechung nimmt eine teleologische Reduktion des Wortlauts vor.
Vergleicht man die Entführungsalternative, bei der das Opfer mittels einer Ortsveränderung in eine hilflose Lage gebracht wird, welche anschließend zur Erpressung ausgenutzt wird, müsse auch das Sich-Bemächtigen eine „stabile Bemächtigungslage“ voraussetzen, welche der Täter dann zur Erpressung auszunutzen beabsichtigt. Eine solche stabile Bemächtigungslage ist schon durch das Bedrohen mit einer (Schein-)Waffe gegeben.
Definition: Eine stabilisierte Zwangslage liegt vor, wenn das Sich-bemächtigen über die Erpressung hinausgeht, mithin dem Sich-bemächtigen eine eigene Bedeutung innewohnt.
Wichtig ist, dass dieser stabilen Bemächtigungslage mit Blick auf die erstrebte Erpressung eine eigenständige Bedeutung zukommen muss. Gemeint ist damit, dass der Tatbestand jedenfalls nicht verwirklicht ist, wenn das Sich-Bemächtigen und die Nötigung zur Vermögensverfügung in einem Akt zusammenfallen. Eine solche ist regelmäßig anzunehmen, wenn das Sich-bemächtigen länger andauert oder über die Erpressung hinaus noch eine weitere Nötigung beabsichtig ist.
Faustformel: Sich-Bemächtigen und erpresserische Nötigung fallen nicht in einem Akt zusammen, wenn man die Nötigung wegdenken kann, ohne dass die Bemächtigung entfällt.
Im Fallbeispiel dient das Nötigungsmittel, welches einen Akt darstellt, zugleich dem Sich-Bemächtigen und der erpresserischen Nötigung: Denkt man die vorgehaltene Waffe weg, gäbe es keine Bemächtigungslage. § 239a StGB ist deshalb mangels zweier Teilakte mit eigenständiger Bedeutung zu verneinen. § 239b StGB ist in jedem Fall aus den gleichen Gründen ebenfalls nicht anwendbar; § 239 StGB müsste man wohl wegen der nur sehr kurzen Beeinträchtigung der Fortbewegungsfreiheit ablehnen.
Hieraus folgt, dass man dem Prüfungsschema der Entführungs- und Bemächtigungsalternative im subjektiven Tatbeständen in 2-Personen-Verhältnissen noch einen dritten Prüfungspunkt hinzufügen muss: Es muss zusätzlich ein funktionaler Zusammenhang zwischen Entführungs-/Bemächtigungslage und geplanter Erpressung vorliegen.