I. Allgemeines
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Den Ausgangspunkt für den Grundsatz von Treu und Glauben bildet § 242 BGB:
Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.
Dabei handelt es sich um ein allgemeines rechtsethisches Prinzip, das die gesamte Privatrechtsordnung durchdringt. Allerdings stellt es lediglich eine Art Generalklausel, keinen subsumtionsfähigen Tatbestand, dar. Das bedeutet, dass Treu und Glauben im Einzelfall wertend konkretisiert werden müssen.
Definition: Treue ist eine auf Zuverlässigkeit, Aufrichtigkeit und Rücksichtnahme beruhende äußere und innere Haltung gegenüber einer anderen Person.
Definition: Glauben ist das Vertrauen auf eine solche Haltung.
§ 242 BGB betrifft seinem Wortlaut nach nur die Art der Leistungsbewirkung durch den Schuldner. Darüber hinaus wird jedoch ein in alle Bereiche des Privatrechts ausstrahlender allgemeiner Grundsatz von Treu und Glauben abgeleitet. Der Grundsatz kann auch Ausgangspunkt für verfassungsrechtliche Wertungen (Grundrechte) im Privatrecht sein.
II. Fallgruppen
Zur Konkretisierung haben sich in Rechtsprechung und Lehre einige Fallgruppen nach den Funktionen des § 242 BGB herausgebildet:
- Pflichtenbegründende Funktion
- Schrankenfunktion
- Regulierende Funktion
- Kontroll- und Korrekturfunktion
Die verschiedenen Fallgruppen i.R.d. § 242 BGB werden im Folgenden näher erläutert.
1. Pflichtenbegründende Funktion
Aus § 242 BGB ergeben sich zunächst verschiedene Pflichten:
- Eine allgemeine Rücksichtnahmepflicht, die auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen der anderen Partei gerichtet ist. Diese Pflicht findet sich auch schon in § 241 Abs. 2 BGB. Sie erstreckt sich gem. § 311 Abs. 2 BGB auch auf vorvertragliche Schuldverhältnisse.
- Ggf. ergibt sich daraus auch eine Auskunftspflicht über bestimmte Tatsachen bzw. das Recht, Auskunft von der anderen Partei zu verlangen.
2. Schrankenfunktion
Andererseits dient der Grundsatz von Treu und Glauben auch der Abwehr unzulässiger Rechtsausübung und Rechtsmissbrauchs. Damit begründet § 242 BGB rechtsvernichtende und -verhindernde Einwendungen.
a. Dolo-Agit-Einrede
Besonders klausurrelevant ist die sog. Dolo-Agit-Einrede, auch als Arglisteinwand bezeichnet.
Diese besagt, dass eine Klage eine unzulässige Rechtsausübung darstellt und keinen Erfolg hat, wenn der Kläger die eingeklagte Leistung sofort an den Beklagten zurückgeben müsste, weil diesem ein Gegenanspruch zusteht.
Diese Einrede ist vor allem bei Herausgabeansprüchen (z.B. nach § 985 BGB) relevant. Liegt ein Fall der Dolo-Agit-Einrede vor, dann ist dieser Anspruch nicht durchsetzbar.
b. Widersprüchliches Verhalten und Verwirkung
Einen Verstoß gegen § 242 BGB kann auch widersprüchliches Verhalten sein, sog. venire contra factum proprium (lat. für „Zuwiderhandlung gegen das eigene frühere Verhalten“).
Ein solches widersprüchliches Verhalten ist grundsätzlich unbeachtlich, es sei denn, die andere Seite hat damit einen Vertrauenstatbestand geschaffen. Dann liegt eine unzulässige Rechtsausübung vor, weil das widersprüchliche Verhalten rechtsmissbräuchlich ist.
Ein Spezialfall von venire contra factum proprium ist die Verwirkung. Der Gläubiger kann ein Recht dann nicht mehr geltend machen, wenn er es über eine längere Zeit nicht geltend gemacht hat (Zeitmoment) und der Schuldner auf die zukünftige Nichtgeltendmachung vertrauen durfte (Umstandsmoment).
Die Einwendung der Verwirkung kann dazu führen, dass ein Anspruch nicht mehr durchgesetzt werden kann, obwohl er besteht und noch nicht verjährt ist.
c. Unredlichkeit und Rücksichtslosigkeit
Unzulässig ist auch die Ausübung eines Rechtes, welches unredlich oder rücksichtslos erlangt bzw. ausgeübt wurde.
Definition: Eine unredliche Erlangung liegt vor, wenn das Recht durch Täuschung oder durch anderweite List erlangt wurde.
Beispiel: Ausübung einer Vertragsklausel, die mit unlauteren Mitteln gegenüber dem nichtsahnenden Vertragspartner durchgesetzt wurde.
Definition: Rücksichtslosigkeit liegt vor, wenn das Recht in einer Art und Weise, die zu vermeidbaren Nachteilen für den Vertragspartner führt, ausgeübt wird.
Beispiel: Ausübung des mietrechtlichen Zutrittsrechts zur Nachtzeit.
3. Regulierungsfunktion
Die Regulierungsfunktion dient der Ergänzung und Konkretisierung gesetzlicher und vertraglicher Regelungen.
Beispiel: Leistungen dürfen nicht an einem unpassenden Ort erfolgen.
4. Kontroll- und Korrekturfunktion
Zuletzt dient der Grundsatz von Treu und Glauben auch der Kontrolle von vertraglichen und gesetzlichen Regelungen.