I. Grundlagen
Die strafrechtlichen Irrtümer sind bis auf wenige Ausnahmen in den §§ 16 f. StGB geregelt. Zunächst scheint es, als ob es unzählige Irrtümer gibt, was zu starker Verunsicherung führen kann. Betrachtet man die Thematik jedoch eingehend, offenbart sich, dass sich die Irrtümer deutlich voneinander unterscheiden und so auch in der Klausur erkannt werden können.
Es muss stets ein Irrtum des Täters vorliegen.
Definition: Irrtum ist dabei das Auseinanderfallen von Vorstellung und Wirklichkeit.
Welche Art von Irrtum vorliegt bestimmt sich also danach, was die Wirklichkeit ist und was sich der Täter stattdessen vorgestellt hat. Solche Irrtümer können auf allen Stufen der Strafbarkeitsprüfung in Erscheinung treten.
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II. Irrtümer auf Tatbestandsebene
Der Täter könnte sich zunächst über den Tatbestand sowohl in tatsächlicher, als auch rechtlicher Hinsicht geirrt haben. Mögliche Irrtümer auf Tatbestandsebene sind:
- Tatbestandsirrtum, § 16 Abs. 1 StGB
- Umgekehrter Tatbestandsirrtum, § 23 Abs. 3 StGB
- Irrtum über privilegierende Tatbestandsmerkmale, § 16 Abs. 2 StGB
1. Tatbestandsirrtum (§ 16 Abs. 1 StGB)
Der klassische Tatbestandsirrtum nach § 16 Abs. 1 StGB liegt vor, wenn der Täter sich den tatsächlichen Sachverhalt so vorstellt, dass ein oder mehrere Tatbestandsmerkmale nicht erfüllt wären. So denkt etwa der Jäger der einen Menschen in der Annahme erschießt, dieser sei ein Hirsch, dass er ein Tier und keinen Menschen tötet, wobei gerade das Merkmal Mensch bei § 212 StGB relevant ist.
Dieser Irrtum ist in § 16 Abs. 1 StGB normiert, mit der Folge, dass der Täter vorsatzlos handelt. Aufgrund dessen wird dieser Irrtum auch bei der Prüfung des Vorsatzes im subjektiven Tatbestand geprüft. Aus § 16 Abs. 1 S. 2 StGB ergibt sich jedoch, dass die Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit hiervon unberührt bleibt.
Da es eine Vielzahl von Tatbestandsirrtümern geben kann, haben sich einige spezielle herauskristallisiert, die besondere Rechtsfolgen haben.
a. Error in persona (vel obiecto)
Bei dieser Konstellation trifft der Täter zwar sein Ziel, täuschte sich aber über dessen Identität, etwa wenn der Täter auf einen Menschen schoss in dem Glauben, es handele es sich um seinen verhassten Nachbarn. Sollte das Tatobjekt identisch mit dem anvisierten Objekt sein (das Opfer ist genauso Mensch wie der Nachbar), ist dieser Irrtum unbeachtlich, da der Täter sich nicht über das Tatbestandsmerkmal irrt.
Sollte der Irrtum jedoch beachtlich sein (weil der Täter etwa den Hund des Nachbarn treffen wollte und keinen Menschen), liegt ein Tatbestandsirrtum vor, was die Strafbarkeit wegen Fahrlässigkeit ermöglicht.
Ein absoluter Klassiker im Rahmen des error in persona ist der sog. Rose-Rosahl-Fall.
b. Aberratio ictus
Das Fehlgehen der Tat (aberratio ictus) unterscheidet sich von der vorhergehenden Konstellation folgendermaßen: Der Täter hat sein Ziel korrekt erkannt, verfehlt es allerdings (ohne Absicht) und trifft ein anderes. Wie die aberratio ictus zu behandeln ist, ist umstritten.
Die herrschende Konkretisierungstheorie geht davon aus, dass der Täter fahrlässig das andere Ziel traf (was ja auch korrekt ist) und versucht hat, das verfehlte Ziel zu treffen. Dementsprechend ist er wegen fahrlässiger Begehung bzgl. des tatsächlich getroffenen und versuchter Begehung bzgl. des verfehlten Tatobjektes zu bestrafen.
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2. Umgekehrter Tatbestandsirrtum (untauglicher Versuch)
In den Fällen, in denen der Täter zwar vorsätzlich handelt, er aber den Tatbestand objektiv nicht verwirklicht (etwa wegen Untauglichkeit von Tatobjekt, Tatsubjekt, Tatgegenstand etc.), ist eine Bestrafung dennoch nicht ausgeschlossen. Dies folgt aus § 23 Abs. 3 BGB. So ist der Täter der den Abzug mit Tötungswillen betätigt, obwohl keine Munition mehr in der Pistole ist, noch strafbar. Dass der Tatbestand nicht erfüllt ist, führt somit nicht zum Strafausschluss.
3. Irrtum über privilegierende Tatbestandsmerkmale (§ 16 Abs. 2 StGB)
Gem. § 16 Abs. 2 StGB kann der Täter nur nach einem milderen Gesetz bestraft werden, wenn er sich dessen Merkmale vorstellte. So kann der Täter der denkt, es seien die Voraussetzungen des § 216 StGB gegeben auch nur nach diesem bestraft werden, eine Strafbarkeit aus § 212 StGB entfällt.
III. Irrtümer auf der Rechtswidrigkeitsebene
Mögliche Irrtümer auf der Rechtswidrigkeitsebene sind:
- Erlaubnistatbestandsirrtum
- Umgekehrter Erlaubnistatbestandsirrtum
- Erlaubnisirrtum
- Umgekehrter Erlaubnisirrtum
1. Erlaubnistatbestandsirrtum (ETBI)
Dies sind die Fälle, in denen der Täter tatbestandlich und rechtswidrig handelte, sich jedoch vorstellte, gerechtfertigt zu sein. Als Beispiel ist die Anwendung von Notwehr zu nennen, obwohl überhaupt kein Angriff vorliegt, der Irrende aber von einem solchen ausgeht.
Wo dieser Irrtum zu prüfen ist, ist abhängig von der vertretenen Meinung. Von denen gibt es eine nicht unerhebliche Anzahl, da es sich bei dem Erlaubnistatbestandsirrtum um eine stark umstrittene Rechtsthematik handelt. Daher beschäftigen sich dieser Artikel und dieses Video ausführlich mit dem Erlaubnistatbestandsirrtum.
Folgt man etwa der rechtsfolgenverweisenden eingeschränkten Schuldtheorie (nur eine von vielen Möglichkeiten), welche besagt, dass die Vorsatzschuld des Täters analog § 16 Abs. 1 StGB entfällt, so ist dieser Irrtum konsequent in der Schuld zu prüfen.
2. Umgekehrter Erlaubnistatbestandsirrtum
In diesen Fällen ist der Täter zwar objektiv gerechtfertigt (es liegt etwa eine Notwehrlage gem. § 32 StGB vor), der Täter handelte jedoch ohne diese Kenntnis. Nach herrschender Auffassung soll daher die Strafbarkeit bei Fahrlässigkeitsdelikten entfallen. Bei vorsätzlicher Begehung ist umstritten, ob eine Strafbarkeit wegen Vollendung oder mittels analoger Anwendung der Versuchsvorschriften zu erfolgen hat.
3. Erlaubnisirrtum (indirekter Verbotsirrtum)
Hiernach stellt sich der Täter vor, es gäbe eine Rechtfertigungsnorm für sein Handeln oder er überschreitet die Grenzen anerkannter Rechtfertigungsgründe in der Annahme, dies wäre noch von dem Rechtfertigungsgrund gedeckt. § 17 StGB ist anzuwenden mit der Folge, das dieser Irrtum in der Schuld geprüft wird.
Beispiel: der Irrende glaubt, dass er tödliche Gewalt gegen eine Beleidigung anwenden darf.
4. Umgekehrter Erlaubnisirrtum
Handelt der Täter gerechtfertigt, ist diese Rechtfertigung nicht deswegen ausgeschlossen, weil er fälschlicherweise annimmt, es gäbe keinen entsprechenden Rechtfertigungsgrund oder er überschreite die Grenzen eines anerkannten. Der Täter hält sein Verhalten also selbst für strafbar.
IV. Irrtümer auf der Schuldebene
- Verbotsirrtum, § 17 StGB
- Umgekehrte Verbotsirrtum, § 17 StGB
1. Verbotsirrtum (§ 17 Abs. 1 StGB)
Ein solcher liegt vor, wenn der Täter entweder nicht weiß, dass sein Handeln strafbar ist oder er die Reichweite einer Verbotsnorm verkennt. Anders als beim Tatbestandsirrtum irrt er sich also nicht über einen Sachverhalt, sondern über dessen rechtliche Bewertung.
Da gem. § 17 Abs. 1 StGB die Schuld entfällt, wird dieser Irrtum im Rahmen der Schuld geprüft. Zu beachten ist auch die Strafmilderung nach § 17 Abs. 2 StGB. Ein Verbotsirrtum liegt etwa vor, wenn der Täter glaubt, das Tragen von Hakenkreuzen sei in Deutschland erlaubt.
2. Umgekehrter Verbotsirrtum
Hierbei stellt sich der Täter vor, dass er entweder gegen eine nicht existente Strafnorm verstößt oder er subsumiert sein Verhalten fälschlicherweise unter eine bestehende Norm. Mangels Rechtsverstoßes ist eine Bestrafung ausgeschlossen. Es liegt ein bloßes Wahndelikt vor, etwa bei der Vorstellung, Ehebruch sei strafbar.
3. Irrtum über Entschuldigungsgründe
Gem. § 35 Abs. 2 StGB ist der Täter nicht zu bestrafen, wenn der Irrtum vermeidbar war. Dies gilt nicht nur für den entschuldigenden Notstand, sondern analog auch für alle anderen Entschuldigungsgründe. Andere Irrtümer auf Schuldebene sind unbeachtlich.
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V. Sonstige Irrtümer und Sonderfälle
Irrtümer über strafausschließende Merkmale oder Strafverfolgungsvoraussetzungen sind grundsätzlich unbeachtlich.
Tipp: Schau dir dieses Video zum Irrtum über Strafausschließungsgründe an!
Besondere Schwierigkeiten in Klausuren bereiten die Irrtümer in Kombination mit Täterschaft und Teilnahme. Schau dir daher unseren Artikel zu den Irrtümern bei der mittelbaren Täterschaft an!